Mala Vita
Namen Minetti. Wenden Sie sich an ihn, vielleicht können Sie mit ihm ein paar Geheimnisse austauschen. Sie mögen doch Geheimnisse, nicht wahr?«
»Weshalb so ablehnend, d’Aventura«, meinte Casagrande barsch. »Colonnello Fessoni wollte nur eine allgemeine Einschätzung der Situation in Sizilien, mehr nicht.«
»Wenn er meine ganz allgemeine Meinung dazu hören will, habe ich nichts dagegen, wenn wir ganz allgemein plaudern«, antwortete d’Aventura, »auch wenn ich ziemlich sicher bin, dass Sie das Allgemeine nicht die Bohne interessiert.«
»Lassen wir es auf einen Versuch ankommen!« Casagrande lächelte.
D’Aventura nickte. »Also gut … Für mich ist die Mafia ein gesellschaftspolitisches Problem. Speziell in Sizilien sind die Wurzeln des Übels: schlechte Ausbildung, hohe Arbeitslosigkeit, keine Perspektiven, kein Geld. Die EU und Rom pumpen Milliarden in die Insel, und nichts davon kommt da an, wo es gebraucht würde. Es verschwindet auf wundersame Weise in den Taschen der
Società d’Onorata
. Fahren Sie mit dem Auto durch Palermo! Dann sehen Sie, dass die ganze Stadt von skandalösem Siechtum befallen ist. Europäisches Geld für die Stadtruine wird entweder zweckentfremdet oder landet auf mafiösen Konten.«
»Das ist auch meine Meinung«, bestätigte Casagrande d’Aventuras Analyse. »Sie haben völlig recht. Man muss für die Jugend besser sorgen, ihnen Arbeitsplätze anbieten, sich um sie kümmern und ihnen erkennbare Perspektiven bieten.«
D’Aventura lachte bitter. »Das sind die üblichen Floskeln, die ich jeden Tag höre, vor allem von Leuten, die nichts von der Sache verstehen. Wie wollen Sie Industriebetriebe dazu bringen, in Sizilien zu investieren und Arbeitsplätze zu schaffen, wenn sie sofort ausgeplündert oder erpresst werden? Die Paten sind und bleiben die Einzigen, die Arbeitskräfte suchen. Sie brauchen Leute, die Schutzgeld erpressen, Leute, die jemanden umbringen, die Attentate vorbereiten. Würde man sichere Rahmenbedingungen für industrielle Investitionen und natürlich auch für den Mittelstand schaffen, dann dürfen Sie auch auf Perspektiven für die Jugend hoffen.«
»Sie sehen das aber sehr verbissen«, erwiderte Casagrande und lachte.
»Was heißt verbissen? Ihrer Meinung nach ist die Mafia wohl ein schweigsamer Schützenverein, der in der Freizeit Strohmänner bastelt, Geld mit dem Verkauf von Zitronen verdient und nach dem Spruch handelt: Lasst uns Gutes tun, lasst uns Morden!«
»Was Ihren Zynismus angeht, den haben Sie wohl gut trainiert, wie? Es ist allgemein bekannt, dass sich allmählich Widerstand regt. Aussteiger oder
pentiti
, wie man sie bei den Mafiosi nennt, werden von unserer Justiz sehr gut abgeschirmt. Sie bekommen neue Identitäten, Freiheit, Geld …«
»Träumen Sie Ihren Traum weiter, Maggiore! Ich jedenfalls kann bei meinen Ermittlungen die vielen Frauen nicht übersehen, die mit der Gewalt nicht zurechtkommen, die Aussteiger, die quälende Ängste haben, und die Kinder, die bei Drogen Zuflucht suchen wie das sechzehnjährige Mädchen, das kürzlich von einer meiner Beamtinnen verhört wurde. Seit Jahren wird es von der Vorstellung gepeinigt, es gehe nackt über eine Dorfstraße, und jeder, der es wagt, sie anzusehen, werde erschossen. Diese Phantasie ist ganz und gar real. Sofern das Dorf auf Sizilien liegt und sofern das Mädchen die Tochter eines Mafiabosses ist. Denn wagt es ein Junge, ein Mafiamädchen zu küssen, ist er dem Tod geweiht. Als unmoralisch gilt es, sich außerhalb der Ehe zu verlieben oder mit Polizisten zu sprechen. Die Regeln der Mafia sind streng und erbarmungslos. Das eiserne Gesetz des Schweigens verpflichtet alle Angehörigen der Mafia, nicht über ihre Erfahrungen zu sprechen. Und doch kann man den Leuten vieles an den Gesichtern ablesen.«
»Ach, kommen Sie, d’Aventura, wollen Sie uns mit sentimentalen Geschichten langweilen?« Casagrande lächelte süffisant und musterte d’Aventuras bullige Statur. »Dabei machen Sie mir nicht den Eindruck, als seien Sie gerade ein Seelchen.«
»Hmm … Sentimental nennen Sie das also! Ich bin Sizilianer und habe erlebt, wie es auf dem Dorf zugeht. Man drückt einem sieben- oder achtjährigen Jungen eine Pistole in die Hand. Man will wissen, ob er damit umgehen kann. Der
bambino
muss ein Tier erschießen, einen Hund oder eine Katze, früher auch mal ein Pferd. Die nächste Stufe ist: Er muss eine Person mit einem Stock quälen. Wenn das alles gutgeht, gibt es die
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