Mala Vita
Sie eng miteinander befreundet waren. Er hat Sie mir gegenüber früher nie erwähnt. Allerdings muss ich gestehen, dass wir beide, ich meine Enrico und ich, nie so ganz …«
Sir Edwin winkte ab und lächelte. »Ich weiß, Signore. Ich weiß eine ganze Menge über Sie. Zum Beispiel, dass Sie Schriftsteller sind.« Er machte eine Pause und betrachtete Cardone ungeniert. »Interessanter Beruf. Ein schwieriger dazu.«
»Nicht jeder Mist hat die Chance, einmal guter Dünger zu werden«, erwiderte Cardone grinsend. »Genauso verhält es sich mit Manuskripten, die Bücher werden sollen.«
Ghallager lachte tonlos in sich hinein. »Nun ja, und ich glaube, weder Sokrates noch Ovid oder Nietzsche wären von heutigen Banken als kreditwürdig angesehen worden. Sie sehen, die Welt ist voller Hoffnungen und Ungerechtigkeiten.«
Ghallagers glattes Gesicht wirkte wie das eines vornehmen Londoner Bankiers, das keine Sorgen und Nöte zu kennen schien. Korrekter, dunkelgrauer Anzug mit Weste, dunkelrotes Einstecktuch, gestärktes, makellos weißes Hemd und rote Fliege. Es fehlten nur noch Regenschirm und Bowler, so perfekt hätte das Bild zum Trafalgar Square in London gepasst. Wie Sir Edwin es bei der herrschenden Temperatur und Schwüle aushielt, war Cardone schleierhaft.
»Lieber Roberto, ich hoffe, ich darf Sie so nennen?«, unterbrach Ghallager Cardones Gedankengang, und bevor dieser antworten konnte, sprach er auch schon weiter: »Bitte nehmen Sie mein tiefes Mitgefühl entgegen!«
Cardone fühlte, wie sich ein Kloß in seinem Hals bildete, als er die Miene seines Gegenübers sah. Sir Edwins schmerzliche Betroffenheit war nicht zu übersehen und keinesfalls aufgesetzt. Plötzlich stellte sich eine Art innere Verbundenheit zu diesem Mann ein, der mit bemerkenswerter Selbstbeherrschung und Disziplin die Form wahrte.
»Grazie tante«,
erwiderte Cardone heiser.
»Ich habe mit Ihrem Bruder einen guten Freund verloren«, kam es über Sir Edwins Lippen, und er zögerte einen Augenblick, bevor er weitersprach: »Und nicht nur das. Wir standen auch jahrelang in einer engen Geschäftsbeziehung. In dieser Zeit ist ein tiefes, gegenseitiges Vertrauen zwischen uns gewachsen, das hat unsere Freundschaft ziemlich einmalig gemacht. Umso mehr trifft mich der grausame Tod, den Enrico erleiden musste.«
»Wie haben Sie hier davon erfahren?«
»Ein mir gut bekannter Notar in Milano hat mich angerufen und mich unterrichtet. Natürlich hat er auch die Spekulationen erwähnt, die in den Medien über Ihren Bruder angestellt werden.«
Cardone nickte und seine Augen nahmen einen harten Glanz an. »Insbesondere deshalb bin ich nach Saint John’s gekommen, Sir Ghallager. Ich weiß bis heute nicht, in welchen Kreisen mein Bruder verkehrt hat, dass ihm so etwas widerfahren konnte. Enricos Erbe, das er in seinem Brief anspricht, ist mir gar nicht so wichtig. Wissen Sie, Sir …«
Ghallager unterbrach ihn mit einer Handbewegung. »Wenn wir ein Thema ausgeklammert haben, dann waren es die Namen seiner Mandanten und die Art seiner Geschäfte. Als Rechtsanwalt läuft man heutzutage überall Gefahr, in Dinge verwickelt zu werden, deren Tragweite man oft erst viel später begreift. Ihrem Bruder wird es nicht anders ergangen sein. Es hat wenig Sinn zu spekulieren. Enrico hat Unterlagen bei uns in einem Schließfach hinterlegt. Vielleicht erhalten Sie bei der Einsichtnahme mehr Informationen über seine Tätigkeit.«
Ghallager sah Cardone mit durchdringendem Blick an. »Aus Enricos Erzählungen weiß ich, dass Sie Schriftsteller sind«, fuhr er in seiner vornehmen Art fort. »Er hat sie mir als sensibel, klug und ehrlich beschrieben. Deshalb möchte ich es so formulieren: Mir ist nicht bekannt, um welche Dokumente es sich handelt. Aber aller Erfahrung nach deponieren Fremde in unserem Land Material, das man zu Hause aus den verschiedensten Gründen nicht aufbewahrt. Sie sollten also genau überlegen, was Sie zu tun gedenken. Möglicherweise öffnen sie die Büchse der Pandora. Ich habe Sie auch deshalb hierhergebeten, weil ich Sie ein wenig vorbereiten möchte, bevor wir zurück nach Saint John’s fahren.«
Wieder lächelte Ghallager. Cardone überlegte, was sein Gegenüber mit diesen Worten wohl andeuten wollte. Mehr und mehr kam er zu der Überzeugung, so gütig und harmlos wie sich Sir Edwin ihm gegenüber gab, war er nicht.
Cardone blickte ihm offen in die Augen. »Wissen Sie, ich habe mein ganzes Leben mit Büchern verbracht. Das ist eine andere
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