Mala Vita
als eine Viper. Nur wenige kennen ihren richtigen Namen. Doch trotz aller Diskretion und Zurückhaltung, die Grasso um ihre Person walten lässt, ist mir durch eine Unachtsamkeit ihr wahrer Name bekannt geworden. Sie heißt Rosanna Lorano, und wie ich erfahren habe, lebt sie in Israel. Ich weiß, dass sie mich beobachtet. Wahrscheinlich hat sie mich in Verdacht, Aufzeichnungen über die Organisation anzufertigen, womit sie ja nicht unrecht hat. Ich traue dieser Dame nicht über den Weg. Unglücklicherweise hat Grasso einen Narren an ihr gefressen, und er hört in letzter Zeit kritiklos auf sie. Bislang vertraut mir Grasso noch. Nichtsdestoweniger bin ich davon überzeugt, dass sie mich umbringen wird.«
Roberto brauchte fast eine Minute, bis sich in seinem Kopf der Gedankennebel lichtete. Dann erfolgte in seinem Gehirn die Kettenreaktion: Rosanna, eine Mörderin. Rosanna, die Geliebte eines Mafioso. Rosanna im Besitz einer Pistole. Rosanna, mit ihm in Antigua … Die Frau, die ihn vom ersten Augenblick an perfekt eingewickelt hat. Da gab es nichts zu deuteln, er war einer gefährlichen Betrügerin aufgesessen, und welche Konsequenzen diese Tatsache für ihn haben würde, traf ihn mit einer solchen Wucht, dass er wie versteinert auf dem Stuhl saß und den Absatz immer wieder las. Dann klappte er das Buch zu und atmete tief durch. Ruhe bewahren und die Gedanken ordnen! Er starrte aus dem Fenster des Coffee Shops. Die Männer standen immer noch am Auto und redeten miteinander.
Wie recht Carlo mit seinem Misstrauen gegenüber Rosanna gehabt hatte! Doch jetzt darüber zu grübeln, hatte keinen Sinn. Nur eine einzige Sache war ihm deutlich: Er musste nun das Richtige tun. Packen und aus dem Hotel verschwinden?, schoss es ihm durch den Kopf. Aber wohin? Er befand sich auf einer Insel. Alles stehen und liegen lassen und am Flughafen den nächsten freien Platz buchen? Auch diese Idee verwarf er. Was, wenn er ins »Coco Bay Beach Ressort« zurückkehrte? Sie würde das Geld und dieses Buch haben wollen, das stand für ihn fest.
Er durfte sich jetzt auf keinen Fall verrückt machen lassen. Wieder sah er aus dem Fenster. Jetzt waren die Männer verschwunden, was ihn erleichterte. Abermals schalt er sich einen Idioten, der allmählich unter Verfolgungswahn litt. Niemand außer Rosanna konnte wissen, was er in Saint John’s zu tun hatte. Seine Lage war alles andere als zum Lachen. Er brauchte dringend einen Plan, um aus dieser verfahrenen und höchst gefährlichen Situation möglichst unbeschadet herauszukommen. In Gedanken ging er seine nächsten Schritte durch, die er auf Durchführbarkeit und Risiken überdachte.
Er bestellte sich einen weiteren Cappuccino und versuchte, eine Strategie zu entwickeln.
Rosanna wusste, dass er diesen Banktermin hatte. Sie wusste auch, dass sein Bruder Mafiageld unterschlagen hatte, das ihm als Erbe zufiel. Dass Rosanna hinter dem Geld her war, stand für ihn zweifelsfrei fest. Die Schlussfolgerung? Sie würde ihn im Hotel erwarten und vermutlich dazu zwingen, es ihr zu übertragen. Dazu brauchte sie lediglich seine Unterschrift auf einer Vollmacht. Doch an die Millionen durfte sie keinesfalls herankommen, dafür würde er sorgen. Aber wie?
Kalte Wut kroch in ihm hoch. Er brauchte dringend eine Lösung, auch wenn er im Augenblick keinen Ausweg sah. Nicht einmal zur Polizei konnte er gehen. Sollte er dort sagen, dass er glaube, seine schöne Begleiterin wolle ihn umbringen? Man würde ihn auslachen oder ihm Verfolgungswahn unterstellen. Dennoch, irgendetwas musste ihm einfallen, und er musste schnell handeln. Er leerte seine Tasse und starrte hinaus auf die Straße. Eine Idee nahm in seinem Kopf Gestalt an.
Er erinnerte sich, dass er, kurz bevor er die Cafébar betreten hatte, an einem Copyshop vorbeigekommen war. Hastig verließ er das Lokal, nicht ohne sich auf der Straße umzusehen. Nichts wies darauf hin, dass er beobachtet oder verfolgt wurde. Zwei Minuten später stand er im Laden, kaufte Briefpapier und Umschlag und ließ sich einen Kopierer zuweisen.
In fliegender Hast kopierte er Seite für Seite der Kladde zweimal. Dann schlug er das Buch wieder ins Packpapier ein und legte es mit den Kopien in den Aktenkoffer zurück. Sechsundachtzig DIN -A 4 -Seiten bezahlte er am Tresen, fragte den Inhaber nach dem Weg zum Postamt und verließ das Geschäft. Wieder überkam ihn das Gefühl einer Gefahr, die er weder rational erklären noch verdrängen konnte. Misstrauisch blickte er nach links
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