Mala Vita
ein schlanker, großgewachsener Mann mit gewellten tiefschwarzen Haaren, breiten Schultern und athletischer Figur unterbrach die Lektüre. Er legte sein Magazin auf die Ablage und warf einen Blick nach unten. Sein scharfgeschnittenes, aber nichtsdestoweniger sympathisches Gesicht verriet beim zweiten Hinsehen einen Anflug von Hochmut, der zu deuten war, wenn man ihm in die Augen blickte. Aus ihnen sprach eine abschätzende Verachtung, bei der man das Gefühl nicht loswurde, der Mann nehme niemanden ernst.
Das tiefblaue Meer tief unter Ruffo kam allmählich näher, und er konnte die Schaumkronen auf den Wellenkämmen erkennen. Langsam schwenkte die Maschine parallel zur Küste ein.
»Auf der Insel Éfaté herrschen derzeit neununddreißig Grad Celsius«, hörte er den Piloten sagen. »Also, meine Herren, genießen Sie die angenehme Kühle, solange Sie noch an Bord sind! Zu Ihrer Information: Port Vila ist der Hauptort auf dem melanesischen Archipel und gleichzeitig das größte und einzige Wirtschaftszentrum. Heute leben in der Stadt etwa dreißigtausend Menschen. Die Atolle sind von schneeweißen Sandstränden umgeben und bieten phantastische Tauchmöglichkeiten in glasklarem Wasser. Es lohnt sich, sofern Sie Zeit haben und sich von Ihrem Business erholen wollen, von Éfaté aus mit dem Boot die Inseln Kaiviti und Makura zu besuchen. Besonders sehenswert ist der überdachte Markt in Port Vila, auf dem alle landwirtschaftlichen Produkte des Landes angeboten werden.«
»Was denkt sich der Kerl eigentlich?«, knurrte Ruffo. »Anscheinend glaubt er, wir sind hierhergekommen, um Kokosnüsse zu kaufen.«
»Hast du auch seinen intelligenten Wortwitz bemerkt, Pietro«, erwiderte Gallerte, ohne eine Miene zu verziehen. ›Wirtschaftszentrum‹ hat er gesagt.«
Gallerte war ein kleiner, vierschrötiger Typ mit einem abgebrochenen Schneidezahn. Seine Lippen waren nur ein Strich, und sein Lächeln hatte etwas Brutales. Seine Miene ließ den meisten Menschen, die mit ihm zu tun hatten, das Blut in den Adern gefrieren. Bei Fremden hinterließ er nach der ersten Begegnung fast immer den Eindruck, gerade noch einmal einer Grausamkeit entkommen zu sein. Seine gegelten schwarzen Haare hatte er straff nach hinten gekämmt; sie endeten in einem kurzen Zopf, der mit einem gelben Gummiring zusammengehalten wurde. Dank seines untersetzten und sehr muskulösen Körperbaus wirkte er, obwohl nur knapp über einen Meter sechzig groß, kräftig und respekteinflößend. Gallerte war im gleichen Dorf wie Ruffo aufgewachsen, in Lercara Friddi im sizilianischen Hinterland, wo die Mafia leichte Beute bei der Rekrutierung ihres Nachwuchses machte. Die beiden galten seit ihrer Jugend als unzertrennlich. Quer über Gallertes rechte Wange lief eine gezackte Narbe, die er sich bei einer Messerstecherei in den Straßen Palermos zugezogen hatte und seine Bereitschaft zur Gewalttätigkeit unterstrich. In seinem Familienclan galt er als schlau und gefährlich. Oft genug hatte er bewiesen, dass er über eine intuitive Intelligenz verfügte, was ihn zu einem gefährlichen Gegner machte. Überdies sprach er mehrere Sprachen fließend, und er konnte sich wie ein Chamäleon blitzschnell an neue Situationen oder an seine Umwelt anpassen.
»Ich darf Sie jetzt bitten, sich anzuschnallen«, kam es aus dem Lautsprecher. »Ich wünsche Ihnen einen erholsamen Aufenthalt in Tax-Heaven, eine der besten Steueroasen im Pazifik.«
»Schau mal hinunter!«, murmelte Gallerte, der am Fenster saß. »Wie es sich für eine Steueroase gehört. Es gibt Wasser, es gibt Palmen, und sie haben ein paar bunte Hütten, nur eine Bank kann ich nicht entdecken.«
In seinem Jungmännergesicht mit den schmalen, sarkastisch lächelnden Lippen und dem durchdringenden Blick zeigte sich so etwas wie abfälliger Hohn.
Er beobachtete, wie die Maschine schneller an Höhe verlor. Sein Blick schweifte über die vielen Inseln, die aussahen, als habe eine gigantische Hand grüne Smaragde ins Wasser geworfen. Vor seinen Augen tauchte inmitten des azurblauen Korallenmeers, dessen Wasser vom hellklaren Türkis ins Grün changierte, der Archipel Vanuatu auf. Die Maschine zog einen engen Bogen über Etmat Bay Beach und senkte sich über den Hafen. Das Fahrwerk wurde ausgefahren und rastete mit einem vernehmlichen »Klack« ein.
»Willkommen auf James Cooks Schatzinsel«, murmelte Ruffo ironisch. »Ich bin gespannt, ob uns Captain Flint abholt. Ich hoffe nur, dass sein Planwagen Aircondition
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