Mala Vita
Zeit stillzustehen schien. Nebel lag über dem Land, Dunstschleier hingen schwer über dem Horizont und vor den Umrissen der Berge. Die Gebirgsgegend wurde allmählich von riesigen Waldgebieten und blühender Macchia abgelöst. Die hoch aufragenden Steilhänge des Bosco di Ficuzza, aus dem sich das eindrucksvolle Felsmassiv des Rocco Busambra steil in den abendlichen Himmel emporreckte, wirkten im Zwielicht bedrohlich und abweisend. Die Straße führte über kahle Pässe und durch karge Hochebenen, die allmählich in fruchtbare Täler übergingen und zuletzt in sanften Hügeln ausliefen.
Schweigend beobachteten die beiden Paten die vorbeiziehende Landschaft. Nach etwas mehr als einer Stunde erreichte der Konvoi die Vororte von Palermo, deren abgewirtschaftete Wohnblocks und heruntergekommenen Behausungen wie Kraken ihre Tentakel in das fruchtbare Land ausstreckten. Die Stadt hatte sich schon vor vielen Jahren vom Meer abgewandt, die alte Seepromenade war verschwunden, zugeschüttet, bebaut. Die Gärten der »Conca d’oro«, die alten Zitrushaine rings um die Stadt und hinauf in die südlichen Berge am Fluss Orete, waren zugepflastert mit Wohnsilos. Skrupellose Spekulanten hatten mit ihrer ungezügelten Bauwut der Hafenstadt schwere Wunden zugefügt, nicht ohne die Hilfe korrupter Politiker, die in den sechziger Jahren Wohnblöcke für jene bauen ließen, die in den Kellergeschossen der Gesellschaft lebten.
Armut war oft die Folge eines Lebens, das von zerrissenen Familien, Drogensucht, langen Strafregistern und Bandenkriegen gezeichnet war. In Palermo, einst eine der schönsten Städte der Welt, prallten Glanz und unerträgliches Elend erbarmungslos aufeinander, was die Insassen der Luxuslimousine freilich kaum berührte. Sie hatten die Welt der Armut nie betreten, selbst in ihrer Jugend nicht, auch wenn sie an diesem Ort der Gewalt und Hoffnungslosigkeit ihre besten Mitarbeiter rekrutierten. Junge Männer, die kein besseres Leben kannten, die kämpften und mordeten, um sich an die Spitze der Società d’Onorata hinaufzuarbeiten und später ein Dasein auf der gestohlenen Sonnenseite zu verbringen.
Der Konvoi erreichte die Schnellstraße, legte ein zügiges Tempo vor und erreichte wenige Kilometer später über die Via Oreto und die Via Roma die Stadtmitte. Der dichte Verkehr zwang die Fahrzeuge zu einem kleinen Umweg. Der Chauffeur der Paten lenkte den Mercedes routiniert durch den abendlichen Verkehr der Innenstadt. Hochherrschaftliche Häuser, majestätische Gebäude mit antiken Säulen und maurischen Ornamenten, wechselten sich mit Museen und den filigranen Türmen spanischer Kirchen ab. Er fuhr über die Küstenparallele zur Via Maqueda, kreuzte die Piazza Quattro Conti und gelangte wenig später an die Porta Felice. Die Stadt glich mit ihren hell erleuchteten Straßen, den überfüllten Cafés, frequentierten Boutiquen und strahlenden Geschäften einem einzigen großen Jahrmarkt. Der Fahrer verlangsamte seine Geschwindigkeit und bog in die Via Ruggero Settimo ein, in die Straße des Reichtums. Sanft ließ er den Wagen ausrollen und hielt vor einem luxuriösen Geschäft für Herrenbekleidung.
»Ich bin in ein paar Minuten wieder zurück«, sagte Massimo und wuchtete seinen gewaltigen Körper aus der Limousine. Schattengleich folgten ihm zwei Leibwächter aus dem nachfolgenden Fahrzeug. In der Einkaufmeile der begüterten Menschen reihten sich Banken und Juwelierläden an exklusive Einkaufstempel und Edelboutiquen. In den Schaufenstern lag protzige Mode aus, Haute Couture von jener Sorte, wie sie Gattinnen hoher Beamter, Politiker, Unternehmer und Mafiosi in diesem Sommer bevorzugten. Die Damen trugen sie zu den Festen und Galaempfängen in den Gärten oder auf den Terrassen ihrer Villen in Mondello und an der Addaura, Kleider oder Kostüme, deren Preis höher war als der Monatslohn ihrer Kindermädchen, ihrer Köche oder der philippinischen oder arabischen Tellerwäscher, von denen Palermo voll war. In den Nebenstraßen der Via Ruggero Settimo befanden sich die Kanzleien wichtiger Rechtsanwälte, die Büros erfolgreicher Kaufleute, die Luxuspraxen beliebter Ärzte sowie die Studios jener Architekten und Innenausstatter, die gerade in Mode waren. Hier fand man auch Antiquare und Galeristen, die sich in den letzten Jahren maßlos bereichert hatten. Auf dieser Fläche von nicht mehr als tausend Quadratmetern schien der ungeheure Reichtum Palermos zusammenzuströmen. Hier vermengten sich nicht zuletzt die
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