Malefizkrott
bei welcher Gelegenheit gestohlen haben, um es dann bei Durs Ursprung in seinem gerade erst eröffneten Laden im Stuttgarter Gerberviertel zu verstecken?
Wieso gerade erst eröffnet? Woher wusste ich das eigentlich?
Ich suchte die Datei mit dem Zeitungsartikel über Marianne Brandels Besuch in Ursprungs Laden auf. Da stand es. Durs Ursprung hatte die Buchhandlung im Herbst 1966 eröffnet, und zwar im Alter von 27 Jahren. Mein Blick blieb an dem Foto hängen: der verschmitzte alte Buchhändler neben der schicken, aber nicht erheblich jüngeren Kulturstaatsministerin. Das war im Oktober vergangenen Jahres gewesen. Sie war zu einer Konferenz über Stadt und Kulturentwicklung vor dem Hintergrund allgemeiner Sparmaßnahmen in Stuttgart gewesen und hatte den Besuch benutzt, um eine alte Bekanntschaft zu erneuern. »Als Studentin bin ich regelmäßig, wenn ich in der Landeshauptstadt war, in den Laden gekommen. Und Durs und ich, wir sind über all die Jahre in lockerem Kontakt geblieben. Buchhändler wie er sind das Salz unserer Gesellschaft.«
Diesmal krache es in meinem Grind. Richard gegen über hatte Marie gesagt, sie habe Durs Ursprung und sei ne Buchhandlung nicht gekannt. Und Mitte 67 war sie be reits im Ausland gewesen. Wie passte das zusammen? Das war der Knackpunkt. Wieso hatte sie Richard belogen? Es wurde Zeit, dass sie uns das erklärte.
Ich schrieb Richard eine SMS: »Ruf mich an. Habe neue Erkenntnisse über Marie.«
Seine Antwort piepste mitten in der Nacht auf meinem Handy.
»Bin mit Alena, ihrer Mutter, Tante, Großmutter in Brünn. Melde mich am Wochenende.«
Ich starrte auf das Display. Wo war er? Brünn? Liegt das nicht in Tschechien? O Gott! Völlig unvermutet schmolz mir das Herz. Der gute Richard. Auf ihn war einfach Verlass. Wirf ihm das Wort Verantwortung hin, und er schnurrt wie ein Automat los. Seine Gefühle mochten noch so quer stehen in ihm, das pietistische Pflichtgefühl bezwang ihn letztlich immer. Und dann tat er das, was getan werden musste. Er half ohne Rücksicht darauf, was er selbst dabei verlor. Offenbar wusste Richard schon länger, dass die kleine Familie, die er so gern zu seiner gemacht hätte, plante, Deutschland zu verlassen und in ihre Heimat zurückzukehren. Deshalb hatte er Alena auch nie besucht. Vermutlich nicht einmal, um sich selbst zu schonen, um sich nicht zu sehr an die Kleine zu gewöhnen, sondern weil er nicht wollte, dass sie einen Verlust verschmerzen musste.
Mittwochnachmittag holte ich mit Cipión auf dem Notsitz Lola vor dem Fanny-Leicht-Gymnasium ab. Sie hatte inzwischen ihren 18. Geburtstag gefeiert, war aber in den drei Wochen, die ich sie nicht gesehen hatte, zusätzlich um drei Jahre gereift. Wir schifften uns auf die wellige Autobahn Richtung Pforzheim und Karlsruhe ein.
»Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte«, sagte sie, »wenn ich noch mal sechzehn wäre und Papa sagen würde, ich rufe jetzt meinen alten Freund Julius Hezel an, der soll das drucken, dann würde ich ein Feuerzeug unter das Skript halten und alle Dateien auf meinem Computer löschen. Im Grunde habe ich doch nur meinen Vater beeindrucken wollen. Er sollte wenigstens einmal ›Respekt!‹ sagen. Und er hat insgeheim gedacht, ich falle damit auf die Nase. Er glaubt bis heute, dass ohne seine Unterstützung aus dem Buch nie was geworden wäre, und ärgert sich, dass sich niemand für ihn interessiert. Mein Fehler war, dass ich dachte, was meinem Vater gefällt, sei gut. Aber was Eltern gut finden, kann nicht gut sein im Sinne von neu oder originell oder eigenständig. Es ist affirmativ. Neu und revolutionär kann nur sein, was der Elterngeneration nicht gefällt. Nur das ist meins. Außerdem hatte ich das Pech, dass mein Vater einen Verleger kennt. Andere müssen ihren Text an fünfzig Verlage schicken, und keiner nimmt ihn. Dann hat sich das irgendwann erledigt, und sie schreiben was anderes.«
»Aber du hast es doch geschafft, Lola. Alle fallen über dich her. Du hast die Elterngeneration verärgert. Du warst nicht brav. Sie sind mächtig enttäuscht von dir.«
»Hm.«
Die Sonne funkelte uns entgegen, im Radio flatterte Satellite .
»Aber das alles bin schon nicht mehr ich«, resümierte sie. »Ich werde sicher keine Schriftstellerin, sondern vielleicht … Schauspielerin.« Sie schaute mich an. »Übrigens, ich habe mich verliebt!«
»Hei!«
»Ja, total, mit Schmetterlingen und allem.« Lola lachte und Lena jauchzte in ihrem Kunstslang »love, o
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