Malefizkrott
nach oben gerundet haben dürften. Aber wir wollen nicht päpstlicher sein als der Papst. Zu tun hatten Sie heute allerdings nicht viel. Wahrscheinlich eh alles Hirngespinste von mir. Aber besser so als andersherum, nicht wahr?« Er lachte unfroh. »Vorsicht ist die Meisterin der Porzellankiste.«
In diesem Moment gab es ein eigenartiges Geräusch, einen Puff hinter uns. Ein Frauenschrei folgte unmittelbar vom Laden her, dessen Schaufenster die Straße beleuchteten.
Schrader und ich liefen zurück und sahen dort, wo Lolas Tisch gestanden hatte, Flammen emporlodern, sofort unheimlich hoch und wild.
22
Am Wochenende packte ich meine Tasche für zwei Tage und fuhr Sally mit Senta und Cipión nach Münsingen auf der Schwäbische Alb, wo sie ihre vierzehn Tage Urlaub verbringen wollte. Bei knackender Hitze erkundeten wir das Biosphärenreservat auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz. Am Nachmittag verbrannten wir auf der Glut eines eben verlassenen Grillplatzes das verlauste ebay-Exemplar von Hanni und Nanni . Ich hatte es Sally eigentlich nur wiederbringen wollen, nachdem es lang genug im Gefrierbeutel in meinem Gefrierfach gelegen hatte, aber sie hatte ihm den Zutritt zu ihrer Wohnung strikt verweigert, egal wie sehr ich ihr versicherte, dass die Buchläuse zu kleinen Krümeln erfroren seien. Auch in ihrem Ferienzimmer wollte sie es nicht dulden.
Am Abend verweigerten wir uns dem Kick und schauten auf dem alten Videorekorder eine der drei von irgendwelchen Urlaubern vor langer Zeit zurückgelassenen Videokassetten an, die in dem mit einem Dutzend Büchern bestückten Regal des Ferienzimmers standen.
In der bereits lange zurückliegenden fernen Zukunft des Films befehligte ein Feuerwehrmann professionelle Brandstifter, die im Namen der Staatsräson alle Bücher verbrannten, die von uneinsichtigen Bürgern gehortet wurden. Ganze Privatbibliotheken wurden eingeäschert, die Besitzer kostbarer Inkunabeln verhaftet. Der Feuerwehrmann hasste brav alle Bücher, bis ihm so ein Drecksding in die Hände fiel und er den Fehler beging, darin herumzulesen. Er lernte ein junge Frau kennen, die Bücher liebte. Während seine Ehefrau als Babydoll vor der Bildschirmwand im Gespinst sinnentleerter Unterhaltungs- und Ratespielprogramme schwachsinnig wurde, erkannte er, wie sinnlos und leer ein Leben ohne Bücher war, und folgte seiner neuen Bücherfreundin in den Untergrund, wo Bibliophile miteinander glücklich in einem Waldcamp lebten, ein Buch oder auch zwei auswendig lernten und zu lebendigen Büchern wurden. Auch der Feuerwehrmann fand seine Erfüllung im Auswendiglernen eines Buchs. {19} Und wenn sie nicht gestorben sind, dann murmeln sie noch heute: »Am Anfang war das Wort.«
»So ein Scheiß!«, schrie Sally. »Haben die noch nichts davon gehört, dass man auch was aufschreiben kann?«
»Das ist doch gerade der Witz, Sally. Schriftliches kann man verbrennen, was im Kopf eines Menschen ist, nicht.«
»Erstens könnte ich dir Beispiele nennen, wo man Menschen …«
Ich winkte ab. »Lass es!«
»Und zweitens, wieso überhaupt Papier? Wieso müssen die am Lagerfeuer leben wie im Mittelalter? Google scannt alle Bücher dieser Welt. Oder wollte es zumindest mal. Darauf hätten die auch kommen können! Da können die Bücherverbrenner lange mit ihrem Feuerzeug spielen. Kannst du mir mal erklären, warum diese Negativutopien immer so dämlich sind?«
Immer … auch ein schönes Wort. Ich würde es Lola ans Herz legen. ›Immer – schwäb. Verstärkungsruf bei Diskussionen über ein singuläres Phänomen‹
»Es ist halt schwierig, Sally. Niemand konnte sich vor fünfzig oder sechzig Jahren, oder wann das entstanden ist, vorstellen, dass es einmal ein weltweites Gedächtnis geben wird. Eigentlich erstaunlich, dass wir nicht imstande sind, irgendeine grundlegende Umwälzung vorherzusehen – außer dem Weltuntergang im Kometenhagel. Ich bin gespannt, wie die Welt tatsächlich untergeht. Jedenfalls können wir anscheinend immer nur von dem ausgehen, was wir kennen, und damit schwarzmalen. Eine echte Schwäche, findest du nicht? Kein noch so kluger und visionärer Schriftsteller wird jemals das beschreiben, was ich mir noch nicht vorstellen kann. Interessant, nicht?«
Sally guckte mich schräg an. »Diese Lola hat dir wohl ins Gehirn geschissen. Was ist das eigentlich für eine Sache mit dem Sniper? Stand gestern in der Zeitung. Erst erschießt er diesen Buchhändler. Und jetzt hat er einen anderen Typen erschossen.
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