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Malenka

Malenka

Titel: Malenka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irina Korschunow
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nahm fast nicht wahr, wie die Isolierung sich löste. Grüße, die erwidert wurden, Fragen und Antworten, Joseph, der sie um das Salzfaß bat, vorsichtig alles am Anfang, so, als furchte man, die Balance zu stören. Doch auch diese Sperre sollte fallen. »Jeder hier ist einsam«, hatte Herr Baranow gesagt, »nicht nur Sie, Fräulein Möller.«
    Eines Abends klopfte Ildiko an Margots Tür, zum ersten Mal, obwohl ihre Zimmer oben im dritten Stock nebeneinander lagen. Sie stand da in ihrem zu kurzen Rock und dem engen weißen Pullover, eine Schere, ob Margot ihr eine Schere leihen könne.
    Sie trat über die Schwelle und sah zu, wie Margot den Schrank öffnete, in dem kümmerlich und verloren die Kleider hingen, das blaugelbe von Rosa Klingbeil, die gestückelten Kirchenspenden, der Mantel aus Dobbertins Diwandecke. Die Wäsche lag in den Fächern daneben, auch Anna Jaroschs schwarzes Tuch, die Umhängetasche, das Couvert mit den Briefen und Fotografien aus dem Vertiko und Pastor Schabers Abschiedsgeschenk, ein braunes Federmäppchen mit Bleistiften, Radiergummi, Füllhalter, Pinzette, Nagelschere. Ihr gesamter Besitz außer Geld, das tief im Roßhaar der Matratze steckte.
    »Du hast noch weniger als ich«, sagte Ildiko. »Wir haben nach der Befreiung einen ganzen Koffer voll Sachen bekommen, aber die sind entweder zu groß oder zu klein.«
    Margot gab ihr die Schere. »Ich bin Flüchtling, und bei uns ist alles kaputtgegangen.«
    Bei uns, wo war das? Möllers Haus am Markt? Die Kleine Wollweberstraße? »In Pyritz«, fügte sie hinzu, sagte jedoch nichts von Zerstörung und Untergang, denn der Untergang bedeutete für Ildiko Befreiung, und wie sollte Margot ihr erklären, daß sie den Krieg nicht hatte gewinnen wollen und dennoch um Pyritz trauerte.
    Ildiko ließ die Schere auf- und zuschnappen, lockere Klingen, schon stumpf. »Und deine Eltern?«
    Margot antwortete nicht.
    »Sind sie auch tot?«
    »Tiefflieger. Auf der Flucht«, sagte Margot, und der Wunsch, mit der eigenen Zunge zu sprechen, ich, Margot Jarosch, Malenka, überkam sie so heftig, als ob eine Wunde platzte. Sie ging rasch an den Schrank, um die Federmappe zurückzulegen. Ein paar Bleistifte fielen herunter, das gab ihr Zeit.
    Ildiko hatte sich hingesetzt. »Hübsch hier. Unser Zimmer ist größer. Aber wir sind ja auch zwei.«
    »Wo ist Eva?« fragte Margot.
    »Bei Joseph.« Ildikos Finger zeichnete die Stickerei auf den Sesseln nach, Vögel und Blumen. »Evas Eltern hatten die größte Privatbank in Budapest. Und das schönste Haus.«
    »Was hat das mit Joseph zu tun?« fragte Margot.
    »Sein Vater war Schuster«, sagte Ildiko. »Joseph weiß noch nicht mal, wie man Messer und Gabel hält. Natürlich, er ist nett, ein guter Mensch, sagt Eva, und sie will ihm helfen. Aber deswegen braucht sie doch nicht gleich mit ihm zu schlafen. Und alle wissen es, du doch auch.«
    Joseph und Eva, Hand in Hand gingen sie durch die Flure wie in stiller Trance. Auch bei Tisch saßen sie neuerdings nebeneinander. Max Weinstein hatte seinen Platz für Eva freigemacht, »iß, Joseph«, flüsterte sie, seitdem leerte er den Teller, auch die Hand zitterte nicht mehr.
    »Eva hilft nicht nur ihm«, sagte Margot. »Er hilft ihr genauso.«
    »Meinst du?« Ildiko hob die Augenbrauen, zwei schmale dunkle Bögen. Das kurze Haar ringelte sich in Locken, ein Tituskopf, und der Leberfleck neben dem Mundwinkel gab ihrem Gesicht etwas Rokokohaftes. Nichts verriet die Alpträume, von denen sie nachts aus dem Bett gejagt wurde, und daß ihr Körper immer noch die Periode verweigerte. »Meinst du?« wiederholte sie. »Joseph? Das verstehe ich nicht. Ich wünsche mir nur, daß es wieder so wie früher wäre, bei uns zu Hause, alles war ordentlich, alles auf seinem Platz und feste Regeln. Ich fand es schrecklich damals, aber jetzt habe ich solche Sehnsucht nach Ordnung. Dieses Durcheinander hier. Frau Kükü rennt nachts zu Max, und Max versucht mich herumzukriegen, und Olga Piggy schläft mit allen und Eis van Rouwen mit diesem gräßlichen Captain Laughan, dabei kann sie ihn überhaupt nicht leiden, und jetzt noch Eva, und wir wollten doch zusammen nach Amerika.«
    Sie fing an zu weinen, laut wie ein Kind. Margot legte die Arme um sie, unsicher, weil sie nicht wußte, ob Ildiko es dulden würde. Doch Ildiko drückte den Kopf gegen ihre Schulter, bis sie sich beruhigt hatte.
    »Warum soll es ihr helfen? Woher weißt du das?«
    »Damals mit den Tieffliegern«, sagte Margot, ungenau noch der

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