Malerische Morde
Dachrinne entlang. Das Quietschen erinnerte stark an das »Schleifen« auf dem Walsdorfer Polterabend. Gottlob war es aber nicht halb so laut. Herbie stieg beherzt hinauf und bemerkte erfreut, dass er von Minute zu Minute nüchterner wurde.
Es gab ein kleines Sprossenfenster, das direkt aufs Garagendach hinausging. Nach Ingrid Delamots Angaben handelte es sich hierbei um das Badezimmerfenster. Sie hatte erzählt, dass ihr Schwager, als er noch unter den Lebenden weilte, hier immer den Wiedereinstieg ins Haus gefunden hatte, wenn er sich wieder einmal ausgesperrt hatte. Und das war angeblich oft genug vorgekommen.
In das Fenster war ein zweiter kleiner Rahmen eingelassen worden, so dass man eins der oberen kleinen Scheibchen separat aufklappen konnte. Als Herbie dagegen drückte, gab es tatsächlich nach und schwang nach innen. Er griff mit dem Arm hindurch und ertastete den Fenstergriff. In dem Moment, in dem er ihn gedreht hatte, schwang das Fenster auf, und Herbie wäre fast, bis zur Achsel im Fensterrahmen hängend, nach innen gestürzt.
Mach das noch öfters. Das sah toll aus
.
Im Badezimmer roch es nach Schimmel und Urin, und Herbie beeilte sich, so schnell es ging, den kleinen Raum wieder zu verlassen.
»Wo wollen wir zuerst suchen, Julius?« Er tastete sich euphorisch in den Flur hinein. Der Einstieg war gelungen! Was konnte ihn jetzt noch aufhalten?
Voller Eifer öffnete er die gegenüberliegende Tür und stolperte in einen Raum hinein, der mit Kisten vollgestellt war, soweit er das erkennen konnte.
Plötzlich durchzuckte ihn ein Gedanke. »Der Sicherungskasten!«
Was willst du? Licht machen? Mücken und Nachbarn anlocken? Und wieso am Sicherungskasten?
»Wart’s ab!« Er strich mit den Händen an der Flurwand entlang. Immer wieder stieß er dabei gegen Bilderrahmen, und beinahe wäre er am Ende des Flures ungebremst die Treppe hinunter ins Erdgeschoss gestürzt. Er fing sich im letzten Augenblick und war plötzlich sehr, sehr klar im Kopf.
Dann versuchte er es an der gegenüberliegenden Wand.
In den meisten alten Häusern war der Sicherungskasten nahe der Hauptzuleitung angebracht, die durchs Dach kam.
Sein Gespür hatte ihn nicht getrogen. Er fand das kleine Kästchen und tastete es ab.
Greif hinein, und du leuchtest von selbst
.
»Bingo!« Auf dem Kästchen fand er eine Kerze nebst Streichhölzern, beides überzogen von einem dichten Staubpelz.
Nun tu mal nicht so, als seist du gerade in das Topkapi-Museum eingebrochen. Ein morsches Fenster, eine Stumpenkerze. Verfilmt wird die Nummer bestimmt nicht
.
Als Herbie die Kerze entzündet hatte, wurde es mit einem Mal unheimlich. Das flackernde Licht warf beunruhigende schwarze Schatten in Türöffnungen und hinter Möbel, und Herbies Begeisterung löste sich augenblicklich in Nichts auf.
Als er eine weitere Tür öffnete, fand er sich augenscheinlich im Schlafzimmer wieder. Er zog rasch den Vorhang vor das Fenster, um nicht entdeckt zu werden.
Ein Bett, ein Stuhl, ein Radiowecker mit roten Leuchtziffern. Er öffnete den Schrank und glitt mit der Hand an einer Reihe von Kleidungsstücken vorbei, die mit Sicherheit Delamot gehört hatten. Die Menge ließ ihn aufmerken und deutete darauf hin, dass der Maler vermutlich nicht nur von Zeit zu Zeit hier übernachtet hatte, wie seine junge Witwe ihn hatte glauben machen wollen.
Ein einziges Bild schmückte die Wand. Trotz der unzureichenden Beleuchtung konnte Herbie erkennen, dass hier kein ungelernter Feld-, Wald-und Wiesenmaler am Werk gewesen war. Die dargestellte winterliche Gasse führte durch Kronenburg, wie er glaubte. Er ging ganz nah an das Bild heran und sah zum ersten Mal die Signatur:
H. Delamot ’64
. Es sah etwas krakelig aus.
»Wirklich große Klasse. Wenn die alle so sind …« Herbie strich mit dem behandschuhten Finger über die pastös aufgetragene Ölfarbe des Gemäldes.
Sein Blick fiel auf die Uhr. Gleich halb zwei.
Leg dich erst mal ins Bett, mein Junge. Guck dir morgen früh alles in Ruhe an. Vielleicht kommt dann auch die Polizei und macht eine Führung mit dir durch’s Museum
.
Herbie verließ den Raum und stieg die knarrenden Treppenstufen zum Erdgeschoss hinunter. Beim Garderobenspiegel erschrak er für den Bruchteil einer Sekunde vor seinem eigenen Spiegelbild.
Hier unten hing ein Bild neben dem anderen. Soweit er das mit einem flüchtigen Blick erfassen konnte, handelte es sich ausnahmslos um Landschaftsdarstellungen in verschiedenen Formaten. Sie alle schienen
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