Malevil
kerzengerade, verschwommene Gesichtszüge, ein kleiner grauer
Schnurrbart unter der Nase, blinzelnde Augen hinter einer Metallbrille.
»Dem werden wir seinen Anteil aufheben«, sagt Marcel, ohne ihn anzusehen, mit einer schroffen Armbewegung. »Auch für Armand,
Gazel und Josepha. Macht euch keine Sorgen, wir werden niemand benachteiligen. Los, Lanouaille, was wartest du noch, Herrgott
noch mal!«
»Das Fluchen nützt dir gar nichts!« sagt Fabrelâtre in gebieterischem Ton.
Schweigen. Lanouaille sieht mich an, als wollte er meine Meinung erforschen. Er ist ein junger Bursche von fünfundzwanzig |293| Jahren mit runden Backen und offenem Blick, ebenso kräftig gebaut wie der Jacquet. Soweit ich sehen kann, ist er mit Marcel
einer Meinung, wagt aber nicht, sich einfach über Fabrelâtres Einspruch hinwegzusetzen.
Um uns stehen etwa zwanzig Personen. Ich sehe mir die Gesichter an, bekannt die einen, unbekannt die andern, und auf allen
lese ich Hunger, Angst und Traurigkeit. Ich weiß schon, daß und in welchem Sinne ich mich einmischen werde. Doch warte ich
noch, bis ich die Situation besser überblickt habe.
Einer tritt vor. Es ist Pimont. Er hatte das Tabak- und Schreibwarengeschäft von La Roque geführt. Ihn kenne ich gut, noch
besser Agnès, seine Frau. Fünfunddreißig Jahre alle beide. Pimont, ehemals Mittelstürmer der Mannschaft, die Malejac an dem
Tage geschlagen hat, an dem der Onkel und meine Eltern mit dem Auto ums Leben gekommen sind. Klein, lebhaft, untersetzt, Bürstenschnitt,
heiter. Heute aber ist sein Lächeln nicht da.
»Es gibt keinen Grund, die Verteilung aufzuschieben«, sagt er ohne Umschweife. »Wir alle stehen dafür ein, daß sie gerecht
vor sich geht und niemand vergessen wird.«
»Trotzdem wäre es höflicher, zu warten«, sagt Fabrelâtre barsch und blinzelt hinter seiner Stahlbrille.
Ich bemerke, weder Pimont noch Marcel oder Lanouaille sehen Fabrelâtre an, wenn er spricht. Und ich stelle auch fest, daß
Marcel, sonst so lebhaft und aufbrausend, nicht hochgegangen ist, als ihn Fabrelâtre wegen seines Fluchens öffentlich abgekanzelt
hat. Die Menschen hängen mit angstvollen, ausgehungerten Blicken an den beiden Brotlaiben, und es ist klar, daß sie mit einer
unverzüglichen Zuteilung einverstanden wären. Aber niemand außer Marcel und Pimont hat zu sprechen gewagt. Der schlaffe, blasse,
amorphe Fabrelâtre hält zwanzig Personen in Schach!
»Ach, mach schon«, sagt auf einmal der alte Pougès und wendet sich auf patois an Lanouaille (sofort habe ich die Gewißheit,
daß Fabrelâtre kein Patois versteht), »teil aus, Junge, wo mir von diesem Brot schon das Wasser im Munde zusammenläuft!«
Von dem alten Pougès werde ich später reden. Er hat gelacht und sich scherzhaft ausgedrückt, aber sein Lachen findet bei niemandem
Widerhall. Es tritt Schweigen ein. Lanouaille sieht erst mich an und dann das dunkelgrüne Portal des Schlosses, als befürchtete
er, es könnte sich plötzlich öffnen.
|294| Da das Schweigen andauert, verstehe ich, daß der Moment des Eingreifens gekommen ist.
»Warum streitet ihr euch!« sage ich mit einem jovialen Auflachen. »Wozu diese Umstände für nichts und wieder nichts! Mir scheint,
wenn ihr in Verlegenheit seid, braucht ihr doch nur nach der Mehrheit der Anwesenden zu entscheiden. Laßt mal sehen«, fahre
ich mit erhobener Stimme fort, »wer ist für sofortige Verteilung?«
Einen Moment lang gibt es Bestürzung. Dann heben Marcel und Pimont die Hand. Marcel mit gemäßigter Heftigkeit, Pimont bedächtig,
aber völlig entschlossen. Lanouaille schlägt, peinlich berührt, die Augen nieder. Nach einer Sekunde tritt der alte Pougès
einen Schritt vor, blickt mich verständnisheischend an und hebt seinen rechten Zeigefinger, hält ihn aber so nahe vor die
Brust, daß Fabrelâtre, der hinter ihm steht, nichts davon bemerken kann. Da ich mich dieser kleinen List für ihn schäme, zähle
ich seine Stimme nicht mit.
»Zwei sind dafür«, sage ich, ohne daß er protestiert. »Und jetzt: Wer ist dagegen?«
Fabrelâtre hebt als einziger den Finger, und Marcel lacht ihn ganz laut aus, sieht ihn aber noch immer nicht an. Pimont lächelt
spöttisch.
»Enthaltungen?« Keiner rührt sich. Ich schaue mich unter den Leuten von La Roque um. Unglaublich: Sie getrauen sich nicht
einmal, sich der Stimme zu enthalten.
»Mit zwei Stimmen gegen eine«, sage ich in unbeteiligtem Ton, »ist die sofortige Verteilung
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