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Malevil

Malevil

Titel: Malevil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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ausgeübt hat. Da die übrigen anfingen, uns als zwei am Busen
     von Malevil genährte Schlangen zu betrachten, und wir auch erkannten, daß Emmanuel bestürzt war und tatsächlich imstande,
     alles fallenzulassen, gaben wir schließlich nach. Wir nahmen unsere beiden Enthaltungen zurück, einigten uns auf das Prinzip
     eines zweiten Wahlgangs und stimmten beim zweitenmal dafür.
    Auf diese Weise erreichte Emmanuel die Einhelligkeit, die er wollte.

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    In der Nacht nach meiner Wahl fällt der Regen in so dichten Strömen, daß er mich stundenlang wach hält, was aber nicht an
     dem Geräusch liegt, das er verursacht, sondern an meinem fast persönlichen Gefühl der Dankbarkeit. Ich habe frisches Wasser
     schon immer geliebt, doch war das eine nachlässige Liebe gewesen. Wir gewöhnen uns an das, was uns am Leben erhält. Und schließlich
     glauben wir gar, es verstünde sich von selbst. Und doch ist das nicht wahr, nichts ist uns für immer geschenkt. Das zu wissen
     und wieder das Wasser zu sehen verleiht mir die Empfindung, ein Genesender zu sein.
    Ich habe mir das Zimmer, in dem ich jetzt bin, zum Schlafen ausgewählt, weil seine hohe Fensteröffnung mit den Kreuzbalken
     Aussicht nach Osten auf die Rhunes und auf die reizende, jetzt zerstörte Burg Les Rouzies jenseits des Tales bietet. Durch
     dieses Fenster scheint am folgenden Morgen die Sonne herein und weckt mich. Ich traue meinen Augen nicht. Wie Peyssou vorausgesagt
     hat. Ich stehe auf, rüttle Thomas mit Gewalt wach, und wir betrachten gemeinsam unsern ersten Sonnenschein seit zwei Monaten.
    Da erinnere ich mich an eine nächtliche Radpartie über fünfundzwanzig Kilometer mit den Gefährten aus dem Zirkel; nach einem
     Anstieg von gut eineinhalb Stunden gelangten wir auf den höchsten Punkt des Departements (512 m) und sahen die Sonne aufgehen.
     So etwas gehört zu den Dingen, die man als Fünfzehnjähriger mit einer Begeisterung unternimmt, die uns später verlorengeht.
     Und das ist schade. Man sollte im Leben dem Leben mehr Aufmerksamkeit schenken. Es ist nicht so lang.
    »Komm«, sage ich zu Thomas. »Wir wollen die Pferde satteln und uns das von der Poujade aus ansehen.«
    Und wir tun es, ohne uns zu waschen und ohne zu essen. Die Poujade, oberhalb von Malejac, ist der höchste Hügel der Gegend.
     Ich nehme Malabar und überlasse Thomas wie gewöhnlich |288| Amarante, denn Malabar erfordert noch viel Aufmerksamkeit, während Amarante die Sanftmut selbst ist.
    Dieser morgendliche Ausritt mit Thomas auf die Poujade hat sich mir tief eingeprägt, nicht, weil irgend etwas vorgefallen
     wäre – es gab da nichts als die Sonne und uns –, und nicht, weil etwas Wichtiges gesagt worden wäre – wir öffneten nicht den
     Mund. Auch nicht, weil das, was man von der Poujade aus sah, schön gewesen wäre: ein verkohltes Land, verfallene Gehöfte,
     versengte Felder, Baumgerippe. Aber trotzdem, über dem allen schien die Sonne.
    Während wir auf den Hügel reiten, hat ihre Scheibe, nun schon hoch über dem Horizont, von Rot zu Rosa und von Rosa zu Rosaweiß
     gewechselt. Sie spendet angenehme Wärme, ist aber noch so verschleiert, daß man sie ohne Blinzeln betrachten kann. Rundum
     dampft die mit Wasser getränkte Erde. Der Dunst, der von ihr aufsteigt, erscheint über der versengten, tintenschwarzen Scholle
     besonders weiß.
    Unsere Pferde stehen nebeneinander nach Osten gerichtet auf der Poujade, und wir warten wortlos darauf, daß sich die Sonne
     aus ihren Dünsten löst. Als es plötzlich dazu kommt, richten Stute und Hengst, wie überrascht von der ungewohnten Erscheinung,
     gleichzeitig ihre Ohren nach vorn. Amarante läßt sogar ein leises, ängstliches Wiehern hören und wendet den Kopf zu Malabar.
     Er fängt sofort an, ihr das Maul zu beknabbern, und das scheint sie zu beruhigen. Sie blinzelt erstaunlich rasch mit den Augen,
     schneller, scheint mir, als ein Mensch. Freilich hat Thomas die Hand über die Augen gelegt. Ich mache es nicht anders. Das
     blendende Licht ist kaum zu ertragen. Der Schmerz macht uns deutlich, daß wir seit zwei Monaten wie im Keller gelebt haben.
     Dennoch folgt, sobald sich die Augen angepaßt haben, dem Leiden die Euphorie. Meine Brust weitet sich. Seltsam, daß ich so
     kräftig Luft hole, als wäre die Helligkeit etwas zum Einatmen. Außerdem habe ich die Empfindung, daß sich meine Augen weiter
     öffnen als je und daß ich mich mit ihnen selbst öffne. Das Baden in diesem Licht verschafft mir

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