Malevil
Meyssonnier, »ich will dir auch eine Frage stellen: Hast du dich nur deshalb zum Geistlichen von Malevil wählen
lassen, um Gazel fernzuhalten?«
Hätte Thomas mir diese Frage gestellt, würde ich es mir zweimal überlegen, ehe ich antworte. Aber ich weiß, Meyssonnier wird
nicht zu schnell urteilen.
»Wenn du so willst, braucht jede Zivilisation eine Seele«, antworte ich, meine eigenen Worte abwägend.
»Und die Religion wäre diese Seele?«
»Beim gegenwärtigen Stand der Dinge, ja.«
Er überdenkt diese Bekräftigung, die zugleich eine Einschränkung ist. Er will es genauer von mir wissen.
»Die Seele unserer gegenwärtigen Zivilisation, hier in Malevil?«
»Ja.«
»Willst du sagen, der Glaube der Mehrheit der Menschen, die in Malevil leben, sei diese Seele?«
»Nicht allein das. Er ist auch die Seele, die unserer gegenwärtigen Kulturstufe entspricht.«
In Wirklichkeit ist es ein wenig komplizierter. Ich schematisiere, um ihn nicht vor den Kopf zu stoßen.
»Aber diese ›Seele‹, wie du es nennst, könnte doch ebensogut eine Philosophie sein. Beispielsweise der Marxismus.«
»Der bezieht sich auf eine Industriegesellschaft. In einem primitiven Agrarkommunismus ist er nutzlos.«
Er hält im Gehen inne und sieht mich an.
»So also definierst du unsere kleine Gesellschaft in Malevil? Als primitiven Agrarkommunismus?«
»Was denn anderes?«
»Aber dieser primitive Agrarkommunismus ist nicht der echte Kommunismus?«
»Das brauche ich dir nicht erst zu sagen.«
|345| »Ein Rückschritt also?«
»Das weißt du selbst.«
Merkwürdig. Es sieht so aus, als vertraute er auf mein Urteil mehr als auf sein eigenes. Und offenbar ist er sehr erleichtert.
Wenn er den wahren Kommunismus auch nicht mehr erstreben kann, so bleibt er ihm doch wenigstens im Geiste als idealer Bezugspunkt
erhalten.
»Ein Rückschritt«, fahre ich fort, »ist es in dem Sinne, daß das Wissen und die Technologie vernichtet worden sind. Das Dasein
ist unsicherer, bedrohter geworden. Das will jedoch nicht heißen, daß wir unglücklicher wären. Ganz im Gegenteil.«
Sofort bedauere ich, was ich gesagt habe, denn plötzlich wird mir bewußt, daß der Mann, der vor mir steht, vor zwei Monaten
alle seine Angehörigen verloren hat. Doch Meyssonnier sieht nicht so aus, als wäre er schockiert. Er blickt mich an und nickt
langsam und wortlos mit dem Kopf. Also hat auch er empfunden, daß seit dem Tage des Ereignisses die Liebe zum Leben größer,
die gesellschaftlichen Freuden lebendiger geworden sind.
Auch ich schweige. Ich überlege. Die Wertvorstellungen haben sich verändert, sonst nichts. Malevil zum Beispiel. Vorher war
Malevil eine etwas künstliche Sache: eine restaurierte Burg. Ich bewohnte sie allein. Ich war stolz darauf und hatte halb
aus Eitelkeit, halb des Gewinns wegen erwogen, sie für Touristen zu öffnen. Heute ist Malevil etwas ganz anderes. Eine Gemeinschaft
– mit Ländereien, Viehherden, Vorräten an Getreide und Heu, mit Gefährten, die vereint sind wie die Finger einer Hand, und
mit Frauen, die uns Kinder gebären werden. Es ist auch unsere Zuflucht, unser Schlupfwinkel, unser Adlerhorst. Seine Mauern
beschützen uns, und wir wissen, innerhalb seiner Mauern wird man uns begraben.
An diesem Abend, bei Tisch, verdrängt Evelyne, die immerfort hüstelt, Thomas von seinem Platz an meiner Rechten. Er rückt
einfach einen Sitz weiter, und Catie setzt sich an seine rechte Seite. Wir sind jetzt zu zwölft bei Tisch, und die übrigen
Plätze bleiben unverändert, außer daß Momo, ich weiß nicht, wieso, am unteren Ende der Tafel die Menou ersetzt hat, die jetzt
links von Colin sitzt. Momo erfreut sich nun einer beneidenswerten strategischen Lage. Wenn wieder Winter ist, wird |346| er den Rücken am Feuer haben. Vor allem hat er eine schöne Aussicht auf Catie, seine linke Nachbarin, und auf Miette an der
anderen Seite des Tisches. Und während er sich den Magen vollschlägt, faßt er sie abwechselnd ins Auge. Der Blick drückt nicht
das gleiche aus. Für Catie eine Art freudiger Überraschung, wie ein Sultan, der ein neues Gesicht in seinem Harem bemerkt.
Für Miette Anbetung.
Catie sieht nicht so aus, als fiele ihr die unmittelbare Nähe Momos lästig. Sie ist Huldigungen nicht abgeneigt. Die Gefährten
von Thomas findet sie eher zu reserviert. Momos Verhalten kommt ihr entgegen. In seinen Blicken treffen sich die Unschuld
eines Kindes und die Schamlosigkeit eines Satyrs.
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