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Malevil

Malevil

Titel: Malevil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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ihr mein Taschentuch, und sie muß aufhören zu schluchzen, sei es auch nur, um sich zu schneuzen.
    »Nun?«
    Schweigen. Hochziehen.
    »Putz dir doch die Nase!«
    »Hab ich schon.«
    »Schneuz dich noch einmal!«
    Sie schneuzt sich wieder, aber ohne jeden Erfolg. Daraufhin fängt das Hochziehen wieder an. Das muß nervös sein. Wie ihr Husten,
     wie ihr Schluchzen, wie die Zuckungen, die sie schütteln. Wie ihr Asthma vielleicht. Nach der Plünderung unseres Kornfeldes
     und Momos Tod hat sie einen entsetzlichen Anfall gehabt. Ich frage mich, ob sich nicht ein neuer ankündigt. Ich lege meine
     Arme um sie.
    »Nun hör mal«, sage ich, »was ist los?«
    Schweigen.
    »Alle diese Toten«, sagt sie schließlich leise.
    Ich bin überrascht. Das hatte ich nicht erwartet.
    »Weinst du deshalb?«
    »Ja.« Und da ich schweige, fährt sie fort: »Wundert dich das, Emmanuel?«
    »Ja. Ich dachte schon, du willst mir sagen, daß ich dich nicht mehr liebte!«
    »O nein«, sagt sie, »du liebst mich noch ebenso, das spüre ich. Nur läßt du mir nichts mehr durchgehen. Aber das ist mir lieber.«
    »Das ist dir lieber?«
    |388| Schweigen. Sie denkt nach, sie erforscht sich so konzentriert, daß sie das Hochziehen vergißt.
    »Ja«, sagt sie schließlich. »Ich fühle mich viel besser aufgehoben.«
    Ich nehme es zur Kenntnis und schweige.
    »Diese Menschen, die wir getötet haben, hätte man sie nicht nach Malevil nehmen können? In Malevil ist Platz.«
    Ich schüttle im Dunkeln den Kopf, als könnte sie mich sehen. »Es handelt sich nicht um Platz, sondern um die Vorräte. Wir
     sind bereits elf. Man könnte notfalls zwei oder drei Menschen mehr ernähren, nicht aber zwanzig.«
    »Nun gut«, sagt sie nach einer Weile, »dann brauchten wir sie nur unser Korn essen zu lassen.«
    »Und die übrigen?«
    »Welche übrigen?«
    »Die übrigen, die nachkommen werden. Die lassen wir dann unsere Schweine schlachten, unsere Kühe auffressen und unsere Pferde
     wegführen. Und wir können dann immer noch das Gras abweiden.«
    Solche Sarkasmen sind ohne Wirkung auf Evelyne.
    »Du hast doch selbst gesagt, das Korn der Rhunes, das war nicht viel.«
    »Nur im Verhältnis zu unseren Vorräten war es nicht viel. Aber tausendzweihundertfünfzig Kilo Korn ergeben immerhin eine Menge
     Brot.«
    »Aber notfalls hätten wir darauf verzichten können! Das hast du gesagt!« fügt sie, plötzlich im Ton der Anklage, hinzu.
    In der Tat prägt sich alles, was ich sage, für immer ihrem Gedächtnis ein.
    »Notfalls, ja. Aber man kann nie wissen, ob wir im nächsten Jahr nicht eine Mißernte haben. Es ist besser, man hat ein wenig
     im voraus. Wäre es auch nur, um unseren Freunden in La Roque zu helfen.«
    »Und warum sollte denen in den Rhunes nicht geholfen werden?«
    »Es waren zu viele, ich habe es dir bereits gesagt.«
    »Es waren nicht mehr als die Menschen von La Roque.«
    »Die aber kennen wir immerhin.«
    Und da sie schweigt, zähle ich auf: »Pimont, Agnès Pimont, Lanouaille, Judith. Und Marcel, der dich aufgenommen hat!«
    |389| »Ja«, sagt sie. »Und auch den alten Pougès. Den alten Pougès sieht man zur Zeit gar nicht mehr.«
    Das ist wahr. Schon seit gut zehn Tagen haben wir diesen alten Strolch nicht mehr seine Bartspitzen in unseren Wein tauchen
     sehen. Und diese Art, eine Debatte abzuschließen, ohne etwas zu folgern und ohne etwas zuzugeben, ist recht typisch für Evelyne.
     Im übrigen macht es tiefen Eindruck auf mich, daß sie wie eine Erwachsene diskutiert hat. Nichts Kindliches in ihren Äußerungen.
     Und auch ihr Französisch hat gewonnen. Seit ich ihr »nichts mehr durchgehen lasse«, hat sie aufgehört, im Kindischen Zuflucht
     zu suchen.
    »Schön«, sage ich. »Schluß der Sendung. Geh in dein Bett zurück. Ich möchte schlafen.«
    Sie klammert sich an mich.
    »Darf ich nicht noch ein wenig bleiben, Emmanuel?« sagt sie und nimmt wieder ihre Babystimme an.
    »Nein, du darfst nicht. Lauf.«
    Sie läuft, und sie läuft lammfromm. Sie gehorcht sogar mit einer Art Enthusiasmus, als läge die Aussicht vor ihr, ein ganzes
     Leben berauschenden Gehorsams an meiner Seite zu verbringen.
    Dennoch gibt es manches, was ich nicht so recht verstehe. Sie hat von den Plünderern gesprochen, aber nichts von Momo gesagt.
    Doch auch die Menou spricht niemals von Momo. Keine meiner Vermutungen über ihr zukünftiges Verhalten, die ich am Tage der
     Ermordung ihres Sohnes anstellte, hat sich bestätigt. Sie ist nicht in Verzweiflung und Stumpfsinn

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