Malevil
Die Vernunft brachte die Kälteschauer nicht zum Stillstand. Als ich mich umdrehte, erblickte
ich Peyssou, der an einem Faß lehnte und dabei war, seine Kleider wieder anzuziehen. Seltsam, ich sah nur ihn, während doch
auch die fünf anderen da waren. Man hätte meinen können, daß sich mein Auge aus Erschöpfung weigerte, mehr als ein Objekt
auf einmal wahrzunehmen.
»Du ziehst dich wieder an?« fragte ich blöd.
»Ja«, sagte er mit einer schwachen, doch ganz natürlichen Stimme, »ich zieh mich wieder an. Ich geh nach Hause. Meine Yvette
wird schon unruhig sein.«
Ich sah ihn an. Als Peyssou von seiner Frau redete, wurde es plötzlich licht in meinem Geist. Dieser Erleuchtung verlieh ich
sonderbarerweise Farbe, Temperatur und Gestalt. Sie war weiß und eiskalt, und sie zerfleischte mir das Herz wie ein Messer.
Ich sah zu, wie Peyssou sich anzog, und da wurde mir zum erstenmal richtig bewußt, was geschehen war.
»Was hast du denn, daß du mich so ansiehst?« fragte Peyssou aggressiv.
Ich ließ den Kopf sinken. Ich weiß nicht, weshalb, ich fühlte mich entsetzlich schuldig ihm gegenüber.
»Ach nichts, mein lieber Peyssou, nichts«, sagte ich mit schwacher Stimme.
»Du hast mich angesehen«, sagte er in dem gleichen aggressiven Ton, und die Hände zitterten ihm so, daß es ihm nicht gelang,
seine Hose anzuziehen.
Ich antwortete nicht.
»Du hast mich angesehen, das kannst du nicht bestreiten«, wiederholte er mit haßerfülltem Blick und mit einem Zorn, der angesichts
seiner Schwäche nur Mitleid erregen konnte.
Ich schwieg. Ich wollte reden, fand aber nichts zu sagen. Ich blickte in die Runde, um mir Unterstützung zu suchen. Und diesmal
sah ich meine Gefährten. Oder vielmehr: Ich sah sie einen nach dem andern, und jedesmal bedurfte es des gleichen |86| schmerzhaften Kraftaufwands, der mich an den Rand einer Ohnmacht brachte.
Die Menou saß leichenblaß da. Sie hatte Momos Kopf auf den Knien und streichelte ihm, kaum wahrnehmbar, mit ihren mageren
Fingern das schmutzige Haar. Meyssonnier und Colin saßen, erstarrt und verstört, Seite an Seite und hatten die Augen gesenkt.
Thomas stand an ein Weinfaß gelehnt. Er hielt in der einen Hand Momos beleuchteten Transistor, während er mit der anderen
pausenlos und mit äußerster Langsamkeit den Zeiger von einem Ende der Skala zum anderen wandern ließ, doch er suchte die Welt
vergeblich nach einer menschlichen Stimme ab. Sein aufmerksames Gesicht hatte nicht allein die Züge, sondern auch die Färbung
und beinahe die Härte eines Marmorbildes.
Keiner von den Gefährten gab mir meinen Blick zurück. Und im ersten Moment, erinnere ich mich, nahm ich ihnen das furchtbar
übel, fühlte ich den gleichen ohnmächtigen Haß, mit dem Peyssou mich angeblickt hatte. Es erging uns wie dem Kind, das geboren
wird und vor Schmerz schreit, wenn die Luft in seine Lungen dringt: Wir hatten uns so lange Stunden in uns selbst zurückgezogen,
daß es uns sehr schwer fiel, wieder in Kontakt mit den anderen zu treten.
Ich war versucht, Peyssou ganz nach seinem Belieben handeln zu lassen. Mit einem vulgären Zungenschlag sagte ich mir: Na schön,
wenn er’s so nimmt, soll er doch machen, fort mit Schaden! Überrascht von soviel Niedertracht, reagierte ich sofort im umgekehrten
Sinn und verfiel ins Larmoyante: Peyssou, mein lieber alter Peyssou.
Ich ließ den Kopf sinken. Ich war in völliger Verwirrung. Meine Reaktionen waren übertrieben, und keine paßte zu mir.
Beinahe schüchtern, als fühlte ich mich im Unrecht, sagte ich: »Vielleicht ist es jetzt noch ein wenig gefährlich, hinauszugehen.«
Kaum hatte ich diesen Satz ausgesprochen, erschien er mir nahezu lächerlich, so sehr unterschätzte er die Situation. Aber
Peyssou regte sich schon darüber auf. Zänkisch stieß er zwischen den Zähnen hervor: »Gefährlich? Warum gefährlich? Wie willst
du wissen, daß es gefährlich ist?«
Obendrein klangen seine Worte falsch. Er spielte offenbar Komödie. Ich begriff, warum, und mir war zum Weinen. Ich senkte
die Stirn. Aus Erschöpfung, aus Niedergeschlagenheit |87| war ich abermals nahe daran, alles seinen Gang gehen zu lassen. Als ich den Kopf wieder hob, hielten mich Peyssous Augen davon
ab. Sie waren zornig, aber es lag auch eine Bitte in ihnen. Sie beschworen mich, nichts zu sagen, ihn möglichst lange in seiner
Blindheit zu lassen, als hätten meine Worte die Macht, das entsetzliche Unglück, von dem er betroffen war,
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