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Malevil

Malevil

Titel: Malevil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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erster sehen. Ich wäre verloren. Ich war auf jeden Fall in der Klemme, es blieb mir nicht einmal
     mehr die Zeit, umzukehren. Mit einemmal begriff ich, daß in zwei oder drei Sekunden mein Leben auf dem Spiel stünde und daß
     ich keine andere Chance hatte als die Flucht nach vorn: Ich mußte mich auf ihn werfen. Mit der Energie eines Wahnsinnigen
     setzte ich meinen Aufstieg fort und achtete nun nicht mehr auf die Steine, die unter meinen Füßen hinabpolterten, denn ich
     war überzeugt, daß mich der Mann, taub von dem Geräusch seines eigenen Atems, nicht hören würde.
    Verzweifelt, weil mir sein Atmen ganz nahe und laut wie ein Blasebalg erschien und ich nahezu sicher war, oben seinen Gewehrlauf
     auf mich gerichtet zu finden, erreichte ich die Höhe. Ich reckte mich empor. Ich sah nichts. Es war, als wäre mir eine tonnenschwere
     Last von der Brust genommen. Völlig unerwartet, bot sich hier gleich noch eine andere Chance: Kaum einen Meter vor mir fand
     sich ein ziemlich fester Baumstumpf, auf dem ich mich mit dem linken Knie verkeilen und auf dem Hang im Gleichgewicht halten
     konnte, wenn ich das rechte Bein ganz ausstreckte und mich an einem Stein abstützte. Ich zog den Gewehrriemen über den Kopf,
     nahm den Karabiner in die Hand, entsicherte ihn und hielt ihn schußbereit. Das rasselnde, erstickte Atmen kam näher, ich hielt
     die Augen genau auf die Stelle gerichtet, kaum zehn Meter vor mir, wo der Kopf des Mannes auftauchen mußte; dabei hatte ich
     der Versuchung zu widerstehen, einen Blick hinunter in die kleine Ebene und zu Thomas hinter seinem Mäuerchen zu werfen. Konzentriert
     und ohne jede Bewegung achtete ich nur darauf, mich zu entspannen und meinen Atem zu regulieren.
    Mein Warten, das, wie ich glaube, nicht länger als ein paar Sekunden gedauert hat, erschien mir endlos, das linke Knie |175| hinter dem Baumstumpf wurde mir steif, und alle Muskeln, die Gesichtsmuskeln eingeschlossen, fingen an, mich zu schmerzen
     und starr zu werden, als sollte ich mich allmählich in Stein verwandeln.
    Erst tauchte der Kopf auf, dann die Schultern, dann die Brust. Der Mann, von seiner Anstrengung oder vom Suchen nach einem
     Halt für seine Füße ganz in Anspruch genommen, hielt das Gesicht gesenkt und sah mich nicht. Ich legte an, preßte den Kolben
     fest gegen das Schlüsselbein, legte die Wange auf und hielt den Atem an. In diesem Augenblick geschah etwas, was ich nicht
     vorausgesehen hatte. Ich hatte das Herz des Vaters in der Visierlinie. Ich war sicher, ihn auf diese Entfernung zu treffen.
     Doch mein Finger lag schlaff am Abzug. Ich konnte nicht abdrücken.
    Der Vater hob den Kopf, unsere Blicke kreuzten sich. Mit unerhörter Geschwindigkeit legte er seine Flinte an. Ein hartes Knallen,
     ein paarmal hintereinander, und ich konnte sehen, wie sich die Geschosse in sein Hemd bohrten und es zerfetzten. Ein Blutstrom,
     der mir unwahrscheinlich stark und mächtig erschien, quoll aus der Wunde, die Augen verdrehten sich, der Mund schnappte gierig
     nach Luft, dann kippte der Körper nach hinten und rollte den Abhang hinab. Das gewaltige Poltern der Steine, die er bei seinem
     Sturz mitriß, hallte in der Schlucht noch lange wider.
    Während ich abstieg, sprang Thomas über die Mauer und lief, sein Gewehr unterm Arm, quer durch den Wiesengrund, um den Leichnam
     zu untersuchen. Unten angelangt, band ich zuerst den Sohn los. Als er mich erblickte, weiteten Bestürzung und Angst seine
     Augen. Der Glaube an die Unbesiegbarkeit seines Vaters war dermaßen in seinem Bewußtsein verankert, daß er nicht geglaubt
     hatte, mich lebendig wiederzusehen. Und er glaubte mir auch nicht, daß sein Vater tot sei. Dann komm und sieh selbst, sagte
     ich und schob ihn mit dem Lauf meines Karabiners sacht vor mir her.
    Auf halbem Wege begegnen wir Thomas, der von seiner Besichtigung zurückkommt. Er hat Patronentasche und Flinte des Vaters
     an sich genommen, er trägt sie am Riemen über der linken Schulter, über der rechten hat er seine eigene hängen. Voll ins Herz,
     sagt er, ein wenig bleich. Mehrere Kugeln eng beisammen. Während er mit mir redet, nehme ich das Magazin aus |176| meinem Karabiner. Es ist leer. Also habe ich fünf Kugeln abgefeuert. Doch Thomas schüttelt den Kopf, als ich ihm sage, ich
     hätte gemeint, sie in die Haut eindringen zu sehen. Bei der Geschwindigkeit, mit der sie aus dem Lauf kommen, haben meine
     Augen nicht folgen können. Was ich gesehen habe, sind die Risse im Hemd gewesen,

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