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Malevil

Malevil

Titel: Malevil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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bildete die einzigen Farbtupfen in der Landschaft. Ich
     schaute ihn an. Ich traute kaum meinen Augen: Die Höhlenmenschen beschossen uns mit einem Bogen!
    Ich warf einen raschen Blick über die Mauer. Fünfzig Meter vor uns, das enge Tal durchschneidend, verlief eine zweite Mauer
     aus Feldsteinen. In der Mitte ein dicker Nußbaum, verbrannt, aber stehengeblieben. Eine gut ausgewählte Stelle, und doch hatten
     sie einen Fehler begangen: Sie hätten uns die niedrige Mauer übersteigen lassen sollen, um uns im offenen Gelände angreifen
     zu können. Ermutigt wahrscheinlich durch |168| meine Unbeweglichkeit, als ich den Pferdemist bemerkte, hatten sie zu früh geschossen.
    Ich hörte ein neues Schwirren und zog, ich weiß nicht, weshalb, meine Beine an. Es war ein glücklicher Reflex, denn der Pfeil,
     der vom Himmel zu kommen schien, bohrte sich fünfzig Zentimeter vor meinen Füßen tief in die Erde. Dieser Pfeil mußte mit
     dem für die Krümmung seiner Flugbahn erforderlichen Neigungswinkel in die Luft geschossen worden sein. Und dem Schützen, so
     merkte ich gleich, hatte die Schießscharte von Thomas als Markierungspunkt gedient. Ich winkte Thomas, mir zu folgen, und
     kroch an der Mauer entlang einige Meter nach links.
    Ein Pfeil schwirrte genau in die Achse der Schießscharte, die wir gerade verlassen hatten, einen Meter weiter als der andere
     Pfeil. Von dem Moment an, da er sich in die Erde pflanzte, zählte ich langsam eins, zwei, drei, vier, fünf. Bei fünf neues
     Schwirren: Der Schütze benötigte also fünf Sekunden, um den Pfeil zu ergreifen, mit der Kerbe aufzusetzen, zu zielen und das
     befiederte Ende loszulassen. Und sie hatten keine zwei Bogen, sondern nur einen. Die Pfeile kamen einer nach dem andern angeschwirrt,
     niemals zusammen.
    Ich nahm das Zielfernrohr von meinem Karabiner ab. Gerade wegen seiner vergrößernden Wirkung erlaubte es nur ein sehr langsames
     Zielen. Thomas, sagte ich leise, leg du dich auf die andere Seite der Schießscharte, und sobald ich zweimal gefeuert habe,
     hältst du den Kopf über die Mauer, gibst nach Gutdünken deine zwei Schuß ab und wechselst sofort die Stellung. Er entfernte
     sich. Ich folgte ihm mit den Augen. Sobald er Posten bezogen hatte, entsicherte ich das Gewehr und kniete mich hin, das Gesicht
     dicht am Erdboden; den Karabiner hielt ich mit beiden Händen nahezu parallel zur Mauer. Plötzlich richtete ich mich auf, legte
     im gleichen Moment das Gewehr an, riß den Oberkörper herum, meinte hinter dem Nußbaum die Spitze des Bogens zu gewahren, gab
     zweimal Feuer und verschwand. Gleich darauf – während ich noch meine Stellung wechselte – hörte ich das zweimalige Wumm! Wumm!
     der Flinte von Thomas, viel kräftiger als das kurze, trockene Knallen meiner Kugeln.
    Ich wartete auf die Erwiderung. Sie kam nicht. Zu meiner maßlosen Verwunderung sah ich plötzlich, wie Thomas, etwa |169| zehn Meter von mir entfernt, aufstand und in entspannter Haltung stehen blieb; er lehnte mit der Hüfte an dem Mäuerchen und
     hatte das Gewehr am Unterarm hängen. Wenn es möglich ist, mit leiser Stimme zu brüllen, ich tat es: »Hinlegen!«
    »Sie haben eine weiße Flagge gesetzt«, sagte er in aller Ruhe und drehte mit einer Langsamkeit, die zum Verzweifeln war, den
     Kopf nach mir um.
    »Hinlegen!« schrie ich wütend.
    Er gehorchte. Ich kroch an die Schießscharte heran und warf einen Blick über die Mauer des Gegners. Der Bogen, diesmal gut
     sichtbar, wurde geschwungen, ohne daß man die Hand sah, die ihn schwang, und an seiner Spitze hing ein weißes Taschentuch.
     Ich hielt mir den Feldstecher vor die Augen und suchte den oberen Rand der Mauer ab. Ich sah nichts. Ich ließ meinen Feldstecher
     los, hielt die Hände als Sprachrohr vor den Mund und fragte auf patois: »Was willst du mit deinem weißen Lappen?«
    Keine Antwort. Ich wiederholte meine Frage auf französisch.
    »Mich ergeben!« sagte eine jugendliche Stimme auf französisch.
    Ich rief: »Halt deinen Bogen hinter den Kopf, faß ihn mit beiden Händen an und komm her.«
    Schweigen. Ich nahm den Feldstecher wieder auf. Der Bogen mit der weißen Flagge hatte sich nicht von der Stelle gerührt.
    Thomas veränderte seine Haltung und scharrte dabei mit dem Fuß auf dem Boden. Ich winkte ihm, sich still zu verhalten, und
     horchte angestrengt. Ich vernahm keinen einzigen Laut.
    Ich wartete eine volle Minute, dann brüllte ich, ohne meinen Feldstecher abzusetzen: »Na los, worauf wartest du

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