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Malevil

Malevil

Titel: Malevil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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das die Geschosse einzeln durchlöchert hatten.
     Du kannst beruhigt sein, sagt Thomas, er ist auf der Stelle gestorben. Ich lasse dich allein, fügt er hinzu, ich gehe die
     Pfeile einsammeln. Ich vergesse nicht, daß ich Lagerverwalter bin. Bei diesen Worten macht er einen etwas mißglückten Versuch
     zu lächeln und geht.
    Er ist ziemlich angeschlagen, und auch ich bin es, als ich die Leiche sehe. Die breiige Masse in dieser Brust! Und dieses
     weiße, blutleere Gesicht! Ich vermag nicht den geringsten Zusammenhang zwischen meinem unbedeutenden Fingerdruck auf den Abzug
     und dieser Zerstörung zu erkennen. Der Lump, sage ich mir, der auf den Knopf gedrückt hat, um den Atomkrieg auszulösen, muß
     heute, falls er in seinem betonierten Unterstand davongekommen ist, die gleiche Empfindung haben.
    Der Höhlenmensch mochte über die Fünfzig sein. Sehr robust. Ein schwerer, rötlichblonder Mann, bekleidet mit einer schmutzigen
     kastanienbraunen Hose aus Kordsamt und einer zerlumpten Jacke von gleicher Farbe. Ich betrachte diesen Körper, der so kraftvoll
     und doch ohne Leben ist. Ich betrachte auch seinen Sohn. Er empfindet keine Spur von Trauer. Er sieht verblüfft und zugleich
     erleichtert aus. Ganz plötzlich dreht er sich zu mir hin, blickt mich mit scheuem Respekt an, beugt sich und greift nach meiner
     rechten Hand, um sie zu küssen. Ich stoße ihn zurück. Von solcher Gefühlsaufwallung will ich nichts wissen. Da ich aber sehe,
     daß sich nun Furcht und Ratlosigkeit auf seinem Gesicht ausbreiten, frage ich ihn nach seinem Namen. Er heißt Jacquet (Koseform
     von Jacques). Jacquet, sage ich mit erloschener Stimme, geh und hilf Thomas, die Pfeile aufzusammeln.
    Es ist Zeit, daß er geht. Ich fühle eine Ohnmacht nahen. Die Beine werden mir weich, der Blick trübt sich. Ich setze mich,
     drei Meter von dem Höhlenmenschen entfernt, an den Fuß des Hangs und lege mich dann, da es nicht vorübergeht, der Länge nach
     auf die geneigte Fläche und schließe die Augen. Mir ist ganz fürchterlich zumute. Bis plötzlich der Schweiß ausbricht. |177| Ich habe eine unglaublich lebhafte Empfindung von wohltätiger Kühle. Ich bin wiedergeboren. Ich fühle mich zwar immer noch
     schwach, aber es ist die Schwäche der Geburt, nicht die des Todes.
    Nach einer Weile richte ich mich auf, sehe mir den Höhlenmenschen an. Der Onkel verglich ihn mit dem Cromagnonmenschen. Da
     ist etwas dran. Vorgeschobener Unterkiefer, fliehende Stirn, vorspringende Augenbrauenwülste. Aber gewaschen, rasiert, mit
     gepflegten Händen und kurzgeschnittenem Haar und den stämmigen Leib schön eng in eine neue Uniform gezwängt, würde er schließlich
     auch nicht primitiver aussehen als ein tüchtiger höherer Stoßtruppoffizier. Auch nicht dümmer. Er würde auch in nichts jenen
     nachstehen, die in der Ansammlung elementarer tierischer Listen beschlagen sind, die man die Kunst des Krieges nennt: Idiotenfalle.
     Hinterhalt. Scheinbare Kapitulation. Den Gegner in der Mitte fixieren, um ihn an seiner Rechten zu überrennen.
    Ich stehe auf und schließe mich den beiden andern an. Meinen Schwächeanfall haben sie nicht bemerkt. Sie dachten, ich verschnaufe
     mich. Thomas reicht mir den Bogen, und ich sehe ihn mir genau an. Die Waffe, etwa eins siebzig hoch, erscheint um vieles besser
     als jene, die ich Birgitta geschenkt hatte.
    Thomas hat die Pfeile aufgesammelt. Er legt sie zu einem kleinen Bündel zusammen, das er mit der Nylonkordel verschnürt.
    »Dort drüben«, sagt Jacquet und schlägt die Augen nieder, ohne sonstwie auf Amarante anzuspielen.
    Wir gehen über den schmalen Wiesengrund mit seinen gelblichen Grasbüscheln zurück, die mir, so häßlich sie sind, dennoch Vergnügen
     bereiten. Ich sehe mir Jacquet an, seinen schweren rotblonden Kopf, sein gutmütiges Gesicht. Ich ertappe ihn, wie er seine
     kindlichen Augen auf mich richtet. Sie sind, wie gesagt, goldbraun, doch seltsamerweise nimmt die Iris fast den ganzen Platz
     ein, das Weiße ist sozusagen nicht vorhanden, und das, zusammen mit seinen erhöhten Brauen, verleiht ihm den demütigen, traurigen
     Ausdruck eines bettelnden Hundes. Eines Hundes, der etwas ausgefressen hat und dringend wünscht, daß man ihm verzeiht und
     mit ihm spricht. Er strömt über von gutem Willen, von Unterwürfigkeit, von hingebungsbereiter Anhänglichkeit. Er strömt auch
     über von Kraft, |178| von einer Kraft, deren er sich kaum bewußt ist und die von seinem Stiernacken ausstrahlt, von

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