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Malevil

Malevil

Titel: Malevil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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seinen breiten Schultern und
     von seinen langen muskulösen Hominidenarmen, die sich nicht völlig strecken lassen. Und auch seine derben Hände, halb geschlossen
     um einen unsichtbaren Werkzeuggriff, vermögen sich nicht ganz zu öffnen. Er geht schaukelnd zwischen Thomas und mir einher,
     sieht bald den einen, bald den andern an, aber besonders mich, weil ich ja ungefähr das Alter habe, um sein Vater sein zu
     können.
    Ich zeige auf den Bogen, den ich in der rechten Hand trage, und frage ihn auf französisch (ich weiß ja bereits, daß er kein
     Patois spricht): »Wie kommt es, daß dein Vater diese Waffe benutzte?«
    Er ist so beglückt, daß ich das Wort an ihn richte, so von dem Wunsch beseelt, mir Auskunft zu geben, daß er ein wenig stottert.
     Er spricht ein einigermaßen neutrales Französisch, an dem ich weder die Färbung noch den Rhythmus eines darunterliegenden
     Patois erkenne. Und er hat einen Akzent, der weder ganz von hier noch ganz aus dem Norden stammt. Der Einfluß des Vaters und
     der des schulischen Milieus müssen dieses seltsame Gemisch hervorgebracht haben. Kurzum, er war, wie man hier sagt, ein »Fremder«.
    »Er hat es im Norden gelernt«, sprudelt er eifrig hervor. »In einem Schützenverein. Er war Meisterschütze, hat er mir erzählt.
     An den Pfeilen hat er die Spitzen selbst zurechtgemacht – für die Jagd.«
    Überrascht sehe ich ihn an.
    »Für die Jagd! Damit hat er gejagt? Weshalb nicht mit einer Flinte?«
    »Eine Flinte, die hört man«, sagt Jacquet mit einem Lächeln, das fast schon schweigendes Einverständnis voraussetzt. Er weiß
     wohl, daß ich kein Jäger bin und daß meine Wälder jedermann offenstehen.
    Ich sage nichts. Ich glaube allmählich zu verstehen, was zum täglichen Leben eines Höhlenmenschen gehört: Schläge und Verletzungen,
     Notzucht in der Familie und Wilddieberei. Verallgemeinernd gesagt: Gleichgültigkeit gegenüber den Gesetzen. Und das mit dem
     Pfeil erscheint mir äußerst listig. Viel sicherer als eine Schlinge, denn die bleibt liegen, ein Jagdhüter kann sie entdecken.
     Mit dem Pfeil hingegen ist es das Werk einer |179| Sekunde, und vor allem: Er tötet fast lautlos, verscheucht nicht das Wild und alarmiert nicht die Nachbarn. Die sollten wohl,
     sobald die Jagd eröffnet war, nicht mehr viel in ihren Wäldern finden.
    Da ich still bleibe, meint Jacquet aus meinem Schweigen Mißbilligung zu lesen, und in einem demütigen Ton, darauf berechnet,
     mich, den Herrn von Malevil, der niemals den Hunger kennengelernt hat, zu entwaffnen, sagt er: »Wenn das nicht gewesen wäre,
     hätten wir nicht täglich Fleisch zu essen gehabt.«
    Und er hat täglich welches gegessen, das ist sicher. Ich brauche ihn nur anzusehen. Die väterliche Jagd ist ihm gut bekommen.
     Aber eines verwundert mich trotzdem: mit einem Pfeil einen Hasen in vollem Lauf zur Strecke bringen?
    »Der Vater«, protestiert er mit Stolz, »durchbohrte einen Fasan in vollem Flug!«
    Nun ja, dann weiß ich jetzt, wo die Fasanen des Onkels geblieben sind. Er setzte jedes Jahr zwei oder drei Pärchen aus und
     fand sie niemals wieder, auch nicht ihre Nachkommenschaft.
    Von seiner Begeisterung mitgerissen, fügt Jacquet hinzu: »Normalerweise, glauben Sie mir, hätte er Sie mit dem ersten Pfeil,
     den er auf Sie abgeschossen hat, kriegen müssen.«
    Ich runzle die Stirn.
    »Kein Grund, sich damit großzutun«, bemerkt Thomas trocken.
    Es ist an der Zeit, meine ich, der allzu gelockerten Unterhaltung eine etwas straffere Wendung zu geben.
    »Jacquet«, frage ich streng, »hast du unseren Kameraden niedergeschlagen und Amarante gestohlen?«
    Er wird rot, läßt seinen schweren rotblonden Kopf sinken und schaukelt mit unglücklichem Gesicht weiter.
    »Der Vater hat mir gesagt, ich soll es tun. Aber er hatte mir befohlen«, fährt er lebhaft fort, »Ihren Kameraden umzubringen,
     und das habe ich nicht getan.«
    »Warum nicht?«
    »Weil es eine Sünde ist.«
    Das ist unerwartet, aber ich halte das fest. Ich frage Jacquet weiter aus. Er bestätigt mir, was ich von dem Plan des Vaters
     bereits durchschaut hatte: uns in kleinen Partien zu sich heranzulocken und uns alle fünf zu töten, um sich der Burg zu |180| bemächtigen. Zum Verrücktwerden. Ganz Frankreich konnte er nach dem Tag X haben, aber was er wollte, war Malevil – selbst
     um den Preis von fünf Mordtaten. Denn, so sagt der Sohn, das »Personal« hätte er nicht umgebracht. Auch nicht meine Deutsche.
    »Welche Deutsche?«
    »Die in

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