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Malevil

Malevil

Titel: Malevil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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noch?«
    »Werdet ihr auch nicht auf mich schießen?« rief die Stimme.
    »Ganz bestimmt nicht.«
    Es verstrichen noch einige Sekunden, dann sah ich den Mann hinter seinem Mäuerchen auftauchen. Wie ich befohlen hatte, hielt
     er seinen Bogen mit beiden Händen hinter dem Kopf fest. Ich ließ meinen Feldstecher sinken und griff nach dem Karabiner.
    »Thomas?«
    |170| »Ja.«
    »Wenn er da ist, begib dich an die Schießscharte und paß auf. Laß die kleine Mauer nicht aus den Augen.«
    »In Ordnung.«
    Nach und nach wurde der Mann größer. Er ging rasch, er rannte fast. Zu meiner großen Überraschung war er jung, er hatte struppiges,
     ins Rötliche spielendes blondes Haar. Unrasiert. Er blieb vor unserem Mäuerchen stehen.
    Ich sagte: »Wirf deine Waffe zu uns herüber, steig über die Mauer, leg die Hände hinterm Nacken zusammen und knie nieder.
     Ich habe acht Schuß im Magazin, denk daran!«
    Er gehorchte. Ein großer, kräftiger Bursche, mit ausgeblichenen Bluejeans, einem geflickten karierten Hemd und einer alten
     kastanienbraunen Jacke bekleidet, die an der Schulter aufgeplatzt war und von der eine Tasche herunterhing. Bleich, den Blick
     gesenkt.
    »Sieh mich an.«
    Er hob die Lider, und sein Blick überraschte mich. Es war keineswegs der verschlagene, harte Blick, den ich erwartet hatte.
     Im Gegenteil. Goldbraune, fast kindliche Augen, die gut zu seinen rundlichen Gesichtszügen, zu seiner biederen Nase und seinem
     breiten Mund mit den fleischigen Lippen paßten. Auch nichts Hinterhältiges. Ich hatte ihm befohlen, mich anzusehen: Er sah
     mich an. Beschämt, in Angst wie ein Kind, das auf einen Anschnauzer gefaßt ist. Ich setzte mich zwei Meter vor ihm hin und
     hielt den Gewehrlauf auf ihn gerichtet.
    »Bist du allein?« fragte ich, ohne die Stimme zu heben.
    »Ja.«
    Das war viel zu rasch gekommen.
    »Hör mir gut zu. Ich frage noch einmal: Bist du allein?«
    »Ja.« (Ein kaum merkliches Zögern vor dem Ja.)
    Ich wechselte unvermittelt das Thema: »Wie viele Pfeile sind dir geblieben?«
    »Drüben?«
    »Ja.«
    Er überlegte. »Ein Dutzend etwa«, sagte er unsicher. »Viel leicht nicht so viel«, verbesserte er sich.
    Ein merkwürdiger Bogenschütze, der nicht daran gedacht hatte, seine Geschosse zu zählen!
    »Nehmen wir an: zehn«, sagte ich.
    |171| »Zehn, ja, zehn vielleicht.«
    Ich sah ihm ins Gesicht und fuhr ihn plötzlich heftig und rücksichtslos an: »Jetzt aber Schluß! Wenn du noch zehn Pfeile hast,
     warum ergibst du dich dann?«
    Er wurde rot, öffnete den Mund, seine Augen flackerten, die Stimme versagte ihm. Auf diese Frage war er nicht gefaßt gewesen.
     Sie überrumpelte ihn. Und er fand sich völlig verloren, außerstande, sich eine Antwort einfallen zu lassen, außerstande, auch
     nur zu sprechen.
    »Dreh mir den Rücken zu«, sagte ich grob, »und leg die Hände auf den Scheitel.«
    Schwerfällig drehte er sich auf seinen Knien um. »Setz dich auf die Fersen!«
    Er gehorchte.
    »Hör jetzt zu. Ich werde dir eine Frage stellen, Eine einzige. Wenn du lügst, jage ich dir eine Kugel in den Schädel.«
    Ich drückte ihm den Lauf meines Karabiners in den Nacken.
    »Bist du soweit?«
    »Ja«, sagte er kaum hörbar.
    Ich spürte seinen Nacken unter meiner Waffe zittern. »Hör jetzt genau zu. Ich werde dir nicht zweimal die gleiche Frage stellen.
     Wenn du lügst, drücke ich ab.« Ich machte eine Pause und fuhr dann im gleichen Ton rasch und brutal fort: »Wer war mit dir
     hinter der Mauer?«
    »Der Vater«, sagte er mit kaum vernehmbarer Stimme.
    »Wer noch?«
    »Sonst niemand.«
    Ich drückte ihm den Lauf kräftig in den Nacken.
    »Wer noch?«
    »Sonst niemand«, antwortete er ohne Zögern.
    Diesmal log er nicht, ich war dessen sicher.
    »Hat dein Vater einen zweiten Bogen?«
    »Nein. Eine Flinte.«
    Ich sah, wie sich Thomas, sprachlos vor Staunen, umdrehte. Mit einem Zeichen bedeutete ich ihm, seine Überwachung fortzusetzen.
    »Er hat eine Flinte?« wiederholte ich überrascht.
    »Ja, eine Doppelflinte.«
    »Dein Vater hatte die Flinte und du den Bogen?«
    »Nein. Ich selbst hatte nichts.«
    |172| »Warum?«
    »Der Vater läßt mich an die Flinte nicht heran.«
    »Und an den Bogen?«
    »Auch nicht an den Bogen.«
    »Warum?«
    »Er ist mißtrauisch.«
    Reizende Familienverhältnisse. Eine bestimmte Vorstellung von den Höhlenmenschen begann sich bei mir abzuzeichnen.
    »Hat dein Vater verlangt, du sollst dich ergeben?«
    »Ja.«
    »Und sagen, daß du allein gewesen

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