Malevil
Zentimeter über dem Fußboden ein Brett, auf dem sämtliche Stiefel des
Hauses aufgereiht stehen.
Ich schneide der Falvine das Wort ab und sage kurz angebunden: »Deine Tochter Raymonde ist verstorben. Louis ebenfalls. Jacquet
ist dabei, den Wahrwoorde zu beerdigen. Die Catie war in La Roque in Stellung. Wir verstehen uns doch?«
»Aber ja«, sagt die Falvine bestürzt.
Ich sehe sie an und lasse meine Stimme wie eine Peitsche knallen: »Und Miette?«
Die Falvine reißt den Mund auf wie ein Fisch. Ich lasse ihr nicht Zeit, sich wieder zu fangen.
»Jawohl, Miette. Wo ist Miette?«
Sie schlägt die Augen nieder und antwortet mit schwacher Stimme: »Sie war auch in Stellung in La Roque. Und Gott weiß, ob
sie …«
Ich schneide ihr das Wort ab.
»Bei wem?«
»Beim Bürgermeister!«
»Wie Catie also? Dann hatte der Bürgermeister zwei Hausmädchen?«
»Nein, warte, ich irre mich. Im Gasthaus.«
Ich schweige. Ich senke den Blick. Ich sehe ihre Waden, sie sind ungeheuer geschwollen.
»Hast du Schmerzen in den Beinen?«
»Und ob ich Schmerzen habe!« sagt sie atemlos, aber beruhigt und froh über die Abschweifung. »Es ist mein Kreislauf. Du siehst
ja (sie schürzt ihre Röcke, um mir ihre Beine zu zeigen), Krampfadern und alles.«
»Ziehst du Stiefel an, wenn es regnet?«
»Niemals. Wo denkst du hin, das könnte ich nicht! Vor allem seit ich meine Venenentzündung hatte …«
Ihre Beine sind ein unerschöpfliches Kapitel für sie. Dieses Mal gebe ich mir nicht einmal den Anschein, ihr zuzuhören. Mit
dem Karabiner in der Hand stehe ich auf, kehre der Falvine den Rücken und gehe auf das Stiefelregal zu. Hier finden sich drei
Paar gelbe Gummistiefel, Größe 44 oder 46, und daneben ein Paar, das viel kleiner ist, schwarz, mit höheren Absätzen, Größe
38, nicht mehr. Ich nehme den Karabiner in die linke Hand, greife mit der rechten nach dem kleinen Paar Stiefel, |191| drehe mich auf der Stelle um, halte die Stiefel über meinen Kopf und schleudere sie, ohne ein Wort zu sagen, der Falvine mit
aller Kraft vor die Füße.
Die Falvine zieht sich einen Schritt zurück und blickt die zwei auf dem Zementboden liegenden Stiefel wie zwei giftige Schlangen
an, die sie gleich beißen wollen. Sie hebt ihre fetten Hände zum Gesicht und preßt sie an ihre Wangen. Sie ist purpurrot.
Sie wagt nicht, mich anzusehen.
»Hol sie her, Falvine.«
Kurzes Schweigen. Sie blickt mich an. Sie faßt Mut. Ihr Ausdruck ändert sich. Die schwarzen Augen in dem verquollenen Gesicht
lassen eine freche Herausforderung erkennen.
»Willst du nicht lieber selbst gehen?« fragt sie lauernd.
Und da ich nichts erwidere, schieben sich die Schweinebacken beiderseits ihres Mundes zurück, kommen ihre spitzen kleinen
Zähne zum Vorschein, und sie lächelt genüßlich. Nach alledem frage ich mich, ob mir die Falvine besonders sympathisch ist.
Ach, ich weiß, von ihrem Standpunkt aus ist das ganz natürlich. Ich habe den Vater besiegt und getötet. Damit bin ich nun
meinerseits der Vater, gläubige Ehrfurcht umgibt mich, alles ist mein eigen. Auch Miette. Ich selbst aber bin – nicht ohne
Qual und mehr aus Vernunft denn aus Tugend – gerade im Begriff, auf meine Herrenrechte zu verzichten.
»Ich habe dir gesagt, du sollst sie holen«, sage ich, ohne die Stimme zu heben.
Ihr Lächeln verschwindet, sie läßt den Kopf hängen und macht sich davon. Wie ein Pudding schlotternd, macht sie sich davon.
Die Schultern, die Hüften, die Hinterbacken, ihre ungeheuren Waden, alles bibbert.
Ich setze mich wieder an das Tischende, wo ich die Tür im Auge habe. Die Hände, die ich auf die von Waschlaugen geschwärzte
Eichenplatte lege, zittern mir, und nahezu verzweifelt versuche ich, mich zu beherrschen. Ich weiß, daß das, was im nächsten
Augenblick vor mir erscheinen wird, eine mächtige Freude und eine mächtige Gefahr in einem ist. Ich weiß, daß diese Miette,
die, Momo nicht mitgezählt, in einer Gemeinschaft von sechs Männern leben soll, uns vor entsetzliche Probleme stellen wird
und daß ich selbst, wenn ich möchte, daß das Leben in Malevil weiterhin möglich bleibt, keinen einzigen Fehler begehen darf.
|192| »Da ist Miette«, sagt Falvine und schiebt sie vor sich her in den Raum.
Hätte ich hundert Augen, ich hätte noch nicht genug, sie anzuschauen. Zwanzig Jahre vielleicht. Und wie trügerisch dieser
Name Miette ist. Von ihrer Großmutter hat sie die schwarzen Augen und das üppige Haar,
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