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Malina

Malina

Titel: Malina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingeborg Bachmann
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wisse ja, was für Pünktlichkeitsfanatiker die Altenwyls seien, und ich spaziere zurück in der Dämmerung, es summt und wispert in der Seenähe, die Mücken und die Falter flirren um mein Gesicht, ich suche den Weg, am Umsinken, zurück zu dem Haus und denke, ich muß zuversichtlich aussehen, gut aussehen, in Stimmung sein, niemand darf mich hier sehen mit einem aschgrauen Gesicht, es muß draußen bleiben in der Nacht, hier auf dem Weg, ich darf es nur haben in einem Zimmer allein, und ich trete ins erleuchtete Haus und sage strahlend: Guten Abend, Anni! Die alte Josefin humpelt über den Gang und ich strahle und lache: Guten Abend, Josefin! Weder Antoinette noch dieses ganze St. Wolfgang werden mich umbringen, nichts wird mich erzittern lassen, nichts wird mich störenin meiner Erinnerung. Auf meinem Zimmer, wo ich aussehen dürfte, wie ich aussehe, breche ich aber auch nicht zusammen, denn auf dem Waschtisch, neben dem Lavoir aus alter Fayence, sehe ich sofort einen Brief liegen. Ich wasche mir zuerst die Hände, vorsichtig schütte ich das Wasser in den Kübel und stelle den Krug zurück, und danach setze ich mich auf das Bett und halte Ivans Brief in der Hand, den er schon vor meiner Abreise abgeschickt hat, er hat es nicht vergessen, er hat die Adresse nicht verloren, ich küsse viele Male den Brief und überlege, ob ich den Rand vorsichtig aufmachen soll oder ob ich den Brief mit der Nagelschere oder dem Obstmesser aufschlitzen soll, ich schaue die Briefmarke an, ein Trachtenweib ist darauf, warum denn schon wieder? Ich möchte den Brief nicht gleich lesen, sondern jetzt zuerst Musik hören, dann lange wach liegen, den Brief halten, meinen Namen lesen, von Ivans Hand geschrieben, den Brief unter das Kopfpolster legen, ihn dann doch hervorziehen und vorsichtig aufmachen in der Nacht. Es klopft, Anni steckt den Kopf herein: Zum Nachtmahl bitte, gnädige Frau, die Herrschaften sind schon in der Stube. Stube nennt sich das hier, und weil ich mich rasch kämmen, das Make-up korrigieren und noch einmal über die Altenwylsche Stube lächeln muß, bleibt mir wenig Zeit. Nach einem dumpfen Gongschlag von unten, ehe ich das Licht lösche, reiße ich den Brief auf. Ich sehe keine Anrede, es stehen überhaupt nur eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht Zeilen – genau acht Zeilen – auf dem Blatt, und unten auf dem Blatt lese ich: Ivan.
    Ich laufe hinunter in die Stube und jetzt kann ich sagen: Herrlich sei die Luft hier, spazieren sei ich gewesen und hineingeschaut hätte ich da und dort, zu ein paar Freunden, aber besonders die Luft, das Land, nach der Großstadt! Antoinette, mit ihrer sicheren scharfen Stimme nennt ein paar Namen, placiert die Gäste. Es gibt zuerst einfach Leberknödelsuppe. Antoinettes Prinzip ist, besonders im St. Wolfganger Haus, festhalten an der alten Wiener Küche. Es darf ihr nichts Windiges und Modisches auf den Tisch kommen, auch nichts Französisches, Spanisches und Italienisches, man wird nicht von zu weich gekochten Spaghetti überrascht, wie bei den Wantschuras, oder mit einem eingesunkenen traurigen Sabayon, wie bei den Mandls. Wahrscheinlich ist Antoinette es dem Namen Altenwyl schuldig, daß die Namen und die Gerichte unverfälscht bleiben, und sie weiß, daß den meisten Gästen und Verwandten ihr Prinzip zum Bewußtsein kommt. Selbst wenn es Wienerisches nicht mehr geben sollte, bei den Altenwyls wird man, solange sie leben, noch Zwetschkenröster essen, Kaisererdäpfel und Husarenbraten, es wird kein fließendes Wasser geben und keine Zentralheizung, das Leinen der Handtücher wird handgewebt sein, und im Haus wird es eine Konversation geben, was nicht mit ›Gesprächen‹, ›Diskussionen‹, ›Begegnungen‹ zu verwechseln, sondern eine untergehende Abart von schwerelosem Aneinandervorbeireden ist, das jeden gut verdauen läßt und bei guter Laune hält. Was Antoinette nicht weiß, ist, daß ihr Kunstsinn sich auf diesen Gebieten am stärksten entwickelt hat durch den altenwylschen Geist und weniger an ihren auch vorhandenen, etwas konfusen Kenntnissen und zufälligen Erwerbungen moderner Kunst. Der halbe Tisch muß heute französisch sprechen, wegen der weitläufigen Verwandten von Atti, einem Onkel Beaumont und dessen Tochter Marie. Wenn das Französische überhandnimmt, kommt Antoinette mit einer Bitte dazwischen: Atti, sei lieb, es zieht, ja, ich spür es doch, es zieht von dort drüben her! Atti steht zweimal auf und zieht an den Vorhängen herum, rückt und

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