Malloreon 5 - Seherin von Kell
ein schwächeres Licht. Garion rannte rasch, und seine Füße vermieden fast ohne sein Zutun die vielen Blätter und die geknickten dürren Äste und Zweige die auf dem Boden dieses uralten Waldes verstreut herumlagen.
Zakath stand auf der Erhebung und hielt sein gezücktes Schwert in der Hand. »Wo sind sie?« hauchte Garion. »Sie nähern sich aus dem Süden«, wisperte Zakath. »Wie viele?« »Schwer zu sagen.«
»Versuchen sie, unbemerkt an uns heranzukommen?«
»Bisher hat es nicht so ausgesehen. Die paar, die wir gesehen haben, hätten sich leicht hinter den Bäumen verstecken können, aber sie schritten unbeirrt durch den Wald.«
Garion spähte in das heller werdende Licht. Und dann sah er sie. Sie trugen alle Weiß – Gewänder oder lange Kittel – und machten nicht die geringsten Anstalten, sich zu verbergen. Ihre Schritte waren entschlossen, trotzdem schien eine gelassene Ruhe von ihnen auszugehen. Und sie kamen in einer langen Reihe, jeder hielt zu seinem Vordermann einen Abstand von etwa zehn Metern. An der Weise, wie sie so im Gänsemarsch durch den Wald schritten, war etwas eigenartig Vertrautes.
»Ihnen fehlen nur noch die Fackeln«, sagte Silk direkt hinter Garion. Der kleine Mann versuchte gar nicht, leise zu sprechen. »Pst!« zischte Zakath.
»Warum? Sie wissen, daß wir hier sind.« Silk lachte spöttisch. »Erinnerst du dich denn nicht mehr, was auf der Insel Verkat passiert ist?« sagte er zu Garion. »Wir beide sind eine gute halbe Stunde durch nasses Gras hinter Vard und seinen Leuten hergekrochen. Und jetzt bin ich absolut sicher, sie haben die ganze Zeit genau gewußt, daß wir da waren. Wir hätten bloß hinter ihnen herzumarschieren brauchen, dann wären uns die nassen Füße und Knie erspart geblieben.«
»Wovon redest du, Kheldar?« erkundigte Zakath sich mit heiserem Wispern.
»Es ist eine weitere von Belgaraths Wiederholungen.« Silk zuckte mit den Schultern. »Garion und ich haben so etwas schon einmal erlebt.« Er seufzte tief. »Das Leben wird ziemlich langweilig, wenn sich nichts Neues ereignet.« Dann hob er die Stimme zum Brüllen. »Wir sind hier herüben!« rief er den Weißgewandeten im Wald zu. »Bist du verrückt?« knirschte Zakath.
»Wahrscheinlich nicht, aber Verrückte wissen so was selber ja nie, oder? Diese Leute sind Dalaser, und ich bezweifle ernsthaft, daß seit Anbeginn der Zeit irgendein Dalaser irgend jemandem etwas Schlimmes angetan hat.«
Der Führer des seltsamen Zuges hielt am Fuß des niedrigen Buckels an und schob die Kapuze zurück. »Wir haben Euch erwartet«, erklärte er. »Die heilige Seherin hat uns geschickt, Euch sicher nach Kell zu geleiten.«
4
K önig Kheva von Drasnien war an diesem Vormittag gereizt. Er hatte am vergangenen Abend ein Gespräch zwischen seiner Mutter und einem Gesandten König Anhegs von Cherek mitgehört, und seine Gereiztheit ergab sich aus einem moralischen Dilemma. Seiner Mutter zu gestehen, daß er gelauscht hatte, kam überhaupt nicht in Frage, deshalb konnte er mit ihr nicht darüber reden, bis sie das Thema selbst anschnitt. Das aber erschien ihm höchst unwahrscheinlich, und so befand Kheva sich in einer Zwickmühle. Es sollte hier vielleicht erwähnt werden, daß König Kheva wirklich kein Junge war, der seiner Mutter nachspionierte. Er war im Grunde ein anständiger Junge. Aber er war auch ein Drasnier. Und ein Wesenszug aller Drasnier ist – nun, nennen wir es in Ermangelung eines besseren Ausdrucks Neugier. Alle Menschen sind in einem bestimmten Maß neugierig, aber bei den Drasniern ist dieser Wesenszug schon beinahe zwanghaft. Manche sind der Meinung, daß ihre angeborene Neugier Spionieren zu Drasniens Hauptgewerbe gemacht hat. Andere behaupten mit derselben Überzeugung, daß generationenlanges Spionieren die natürliche Neugier der Drasnier bis zur Unübertrefflichkeit geschärft hat. Diese Streitfrage ähnelte den endlosen Argumenten, was zuerst da war, das Huhn oder das Ei, und war fast genauso sinnlos. Schon in frühester Kindheit war Kheva unbemerkt hinter einem der offiziellen Hofspione hergeschlichen und hatte dadurch das Gelaß hinter der Ostwand des Wohngemachs seiner Mutter entdeckt. Dort verbarg er sich hin und wieder, um auf dem laufenden zu bleiben, was Staatsgeschäfte und andere interessante Angelegenheiten betraf. Er war schließlich der König und hatte ein Recht auf dergleichen Informationen. Er sagte sich, daß er sie durch Spionieren bekommen und so seiner Mutter die Mühe
Weitere Kostenlose Bücher