Malory 09 - Der geheimnisvolle Verführer
denn sie sprach mit belegter Stimme, was vermutlich von dem vielen Husten herrührte. Außerdem war sie kreidebleich, wie sich herausstellte, als die Magd ihrer Order nachgekommen war. Es lag den beiden Besuchern fern, Lady Sophie zu überanstrengen. Wenn es nach ihrer Tochter gegangen wäre, hätten sie es nicht einmal bis nach oben geschafft. Aber Letitias Verdruss und ihre ablehnende Haltung hatten dazu geführt, dass ihr die beiden kein Wort geglaubt hatten. Jetzt aber würde es bestimmt nicht mehr lange dauern, bis sie Antworten auf ihre Fragen hätten.
Anthony kam deshalb gleich zur Sache. »Viele Jahre sind ins Land gegangen, Lady Sophie, aber vielleicht erinnern Sie sich noch, dass ich seinerzeit um Adelines Gunst gebuhlt habe, ehe sie vor über zwanzig Jahren England den Rücken zugekehrt hat.«
Die alte Dame kniff die Augen zusammen, ehe sie anhob: »Wie könnte ich Ihr Antlitz vergessen, Sir Anthony? Ein wahrer Charakterkopf. Jetzt sagen Sie nicht, Sie hätten ehrenhafte Motive verfolgt?«
»Wie meinen?«
»Meine Familie und ich hatten seinerzeit den Eindruck, dass Sie es nicht sonderlich ernst meinten, sondern lediglich auf der Suche nach ein wenig Vergnügen waren.«
Ihre Worte hatten Anthony die Röte in die Wangen getrieben. Da er sich zwischenzeitig den Ruf eines Weiberhelden zugelegt hatte, entschied er, dass es besser war, nicht in die Offensive zu gehen, selbst wenn Lady Sophie ihm unrecht tat.
Deshalb antwortete er einfach: »Ich hatte gehofft, sie zu meiner Gemahlin zu machen.«
James, der mittlerweile vor Neugierde fast platzte, hätte am liebsten die alles entscheidende Frage gestellt, wenn sein Bruder es schon nicht übers Herz brachte, einer kränklichen alten Dame unerfreuliche Erinnerungen zu bescheren. Ehe er sich jedoch zu Wort melden konnte, lieferte Lady Sophie ihnen unaufgefordert die gewünschte Antwort.
»Verstehe«, sagte sie mit trauriger Stimme und ebenso niedergeschlagenem Gesichtsausdruck. »In dem Fall dürfte es Sie interessieren, dass sie mit Ihrem Kinde schwanger war.«
»Das habe ich ihm bereits gesagt, Mutter«, mischte Letitia sich schnell ein. »Aber mir wollte er ja nicht glauben.«
Sophie seufzte und antwortete leicht entnervt: »Deine negative Art, Letty, lässt oft Raum für Zweifel.«
James war versucht zu lachen, konnte sich aber gerade noch beherrschen. Anthony hingegen, der nun zum zweiten Mal bestätigt bekam, dass Katey sein eigen Fleisch und Blut war, schien von alledem nichts mitzubekommen.
Es dauerte einen Augenblick, bis er seine Gefühle wieder unter Kontrolle gebracht hatte und sagen konnte: »Vielen Dank, Lady Sophie. Ich hoffe, Sie sind bald wieder genesen. Vielleicht können wir uns diesem heiklen Thema dann noch einmal eingehender widmen.«
»Das würde ich in der Tat begrüßen, Lord Anthony.«
Anschließend erlaubten sie Letitia, dass sie sie aus dem Raum bugsierte. Auf dem Weg nach unten fauchte sie: »Wagen Sie es ja nicht noch einmal, hierherzukommen. Die Erinnerungen schaden meiner Mutter nur. In ihrem Alter muss sie sich das nicht mehr antun.«
Die beiden Brüder erwiderten nichts. Sie hatten erfahren, was sie zu erfahren gehofft hatten.
Katey indes wusste von alledem noch nichts. Sie hatte sich nicht einmal an der Bemerkung gestoßen, dass sie gekommen waren, um sie zu holen. Sie war ihnen kommentarlos an Bord der Maiden George gefolgt. Wütend hatte sie ausgesehen, ihre Gedanken schienen sich in erster Linie um Boyd Anderson zu drehen. Es war jedoch nur eine Frage der Zeit, bis sie sich nach dem Grund erkundigen würde.
James fand, es sei weiter nichts dabei, bis dahin zu warten, und hatte sich vorgenommen, die Zeit dazu zu nutzen, seinem Bruder ein wenig auf den Zahn zu fühlen. Natürlich war er gespannt wie ein Flitzebogen, wie Anthony vorgehen und wie seine Nichte reagieren würde. Er wollte jedoch nur ungern zugeben, wie nervös er wegen ihrer Reaktion war. Deshalb konnte er sich nur allzu gut vorstellen, wie Anthony zumute sein musste.
Kateys Eltern mochten britische Wurzeln haben, aber aufgewachsen und erzogen war sie in Amerika. Und obwohl James selbst seit acht Jahren verheiratet war, stieß er sich gelegentlich an den Gepflogenheiten und Ansichten der Amerikaner. Von wegen gelegentlich, eigentlich alle Nase lang, wenn er ehrlich war. Es lag also durchaus im Bereich des Möglichen, dass Katey mit Ablehnung darauf reagierte, ein Teil der Malory-Familie zu sein.
Es war zwar kaum vorstellbar, aber immerhin möglich.
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