Malory 09 - Der geheimnisvolle Verführer
annähernd so groß war wie Haverston: Sie hatte mit einer ihr fremden Angst zu kämpfen. Nein, das stimmte nicht ganz. Sie kannte das Gefühl von ihrem ersten Abstecher nach Hävers Town. Damals hatte sie sich der Furcht gebeugt und es nicht einmal bis zur Eingangstür ihrer Verwandten geschafft. Sie verspürte abermals den Impuls umzukehren und das Weite zu suchen …
»Kann ich Ihnen weiterhelfen, Miss?«
Die Tür hatte sich geöffnet. Vor ihr stand ein älterer Mann in einer tadellosen schwarzen Livree, die ihn als Bediensteten auswies. Der Butler der Millards? Nein, der Butler ihrer Familie. Verflixt und zugenäht, es war ihre Familie, die hier lebte. Es mochte sein, dass sie ihre Mutter verstoßen hatten, was aber nicht hieß, dass sie selbst nicht auch ein Teil dieser Familie war. Außerdem lag die Verbannung Jahre zurück. Gut möglich, dass ihre Mutter ihnen nicht vergeben hatte, aber vielleicht bereute die Familie ihr Handeln von damals. Das würde Katey jedoch nur dann herausfinden, wenn sie ihnen sagte, wer sie war.
»Ich bin Katey Tyler.«
Der ergraute Butler sah sie verständnislos an. Scheinbar konnte er mit dem Namen Tyler nichts anfangen. Es war denkbar, dass er noch nicht sehr lange im Dienst der Familie stand, aber noch wahrscheinlicher war es, dass die Millards über interne Angelegenheiten nicht mit dem Gesinde sprachen. Dann gab es noch die Möglichkeit, dass der Name Tyler nach dreiundzwanzig Jahren schlichtweg vergessen worden war.
»Ich würde gern bei der Dame des Hauses vorsprechen, wenn das möglich ist.«
»Treten Sie ein, Miss.« Er streckte einen Arm aus. »Der Wind ist ein wenig eisig.«
Erst jetzt bemerkte sie den Wind. Es hatte zwar im Laufe der Nacht aufgehört zu regnen, doch die Sonne versteckte sich noch immer hinter einer dichten Wolkendecke.
Der Butler führte sie in ein großes Zimmer, das als Salon fungierte. Allein die Tatsache, dass sie in das Innere des Hauses geführt wurde, belegte, dass ihre Großmutter anwesend war. Das flaue Gefühl in Kateys Magengrube wurde schlimmer. In das unangenehme Gefühl mischte sich eine gehörige Portion Bewunderung, die ihr die Kehle zuschnürte. Dies war das Haus, in dem ihre Mutter aufgewachsen war. Ob sie wohl auf dem Sofa aus braunem und rosafarbenem Brokat gesessen hat? Hatte sie sich die Hände am Kamin gewärmt? Wer war der Mann, dessen Porträt über dem Sims aus Kirschholz hing? Er hatte braunes Haar und wirkte über die Maßen vornehm. Er war nicht sehr groß, aber durchaus anziehend. Adelines Vater? Ihr Großvater? Oder einer ihrer Vorfahren?
Beim Allmächtigen, dieses Haus steckte voller Familiengeschichten und Anekdoten. Ob sie sie je zu hören bekäme? Ob ihre Verwandten ihre Erinnerungen mit ihr teilen würden?
»Meine Mutter schläft. Es geht ihr nicht sonderlich gut. Kann ich Ihnen irgendwie weiterhelfen?«
Katey schoss herum und erblickte eine Frau mittleren Alters mit ausgeblichenem braunem Haar und smaragdgrünen Augen. Kateys Augen. Die Augen ihrer Mutter. Sie konnte spüren, wie sich Tränen in ihren eigenen Augen sammelten. Das musste ihre Tante sein. Sie sah Adeline vom Gesicht her zwar nur entfernt ähnlich, aber diese Augen …
»Letitia?«
Die Frau runzelte die Stirn, was ihre äußere Erscheinung drastisch veränderte und ihr eine angsteinflößende Strenge verlieh. Zumindest empfand Katey es so. Andere mochten sich davon nicht beeindrucken lassen, aber dies war Kateys Tante, eine der wenigen Verwandten, die Katey hatte, auch wenn die Frau noch nichts davon ahnte.
»Lady Letitia, wenn ich bitten dürfte«, sagte die Frau mit herablassendem Ton, als hätte sie es mit jemandem zu tun, von dem sie wüsste, dass er oder sie zu einer der unteren Schichten gehörte. »Kenne ich Sie?«
»Noch nicht, aber … ich bin Katey Tyler.«
»Ja und?«
Keine geöffneten Arme. Keine entzückten Schreie. Keine Freudentränen. Genau wie der Butler wusste ihre Tante mit dem Namen nichts anzufangen.
Katey war davon ausgegangen, dass wenigstens die Millards sich an den Namen des Mannes erinnern konnten, dem sie untersagt hatten, ein Teil der Familie zu werden. Die beiden Schwestern mussten doch irgendwann über ihren Vater gesprochen haben. So viele Jahre lagen nicht zwischen ihnen, höchstens fünf oder sechs, so weit Katey das beurteilen konnte, obgleich sie nur auf spärliche Informationen zurückgreifen konnte.
Um endlich Klarheit zu schaffen und ehe sie völlig die Nerven verlor, sagte sie: »Ich bin Ihre
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