Malory 09 - Der geheimnisvolle Verführer
wie Boyd sich ausgezeichnet mit Georgina und Drew verstand, weil sie die drei Küken der Familie waren.
»Dann werde ich ihn eben vertreten müssen«, sagte Boyd und verließ eiligen Schrittes das Haus.
Kapitel 2
Die Kutschfahrt war der reinste Albtraum. Es war eine alte Kutsche und die Sitze waren noch nicht einmal gepolstert. Es war durchaus denkbar, dass sie früher, als die Kutsche noch neu gewesen war, gepolstert waren, aber wie viele Jahrhunderte mochte das her sein? Beide Fenster waren offen und boten keinerlei Schutz vor den Elementen. Die Fensterscheiben waren längst zerbrochen und entfernt worden.
Stattdessen war ein Stück Stoff vor die beiden Öffnungen gespannt worden, um dem Wind Einhalt zu gebieten, was aber zur Folge hatte, dass auch das Tageslicht ferngehalten wurde. Zum Glück war es erst Mitte Oktober, sodass keine Gefahr bestand zu erfrieren. Immerhin eine Angst weniger, mit der sich Judith auseinandersetzen musste.
Bislang hatte sie noch keine Träne vergossen. Immer wieder sagte sie sich, dass sie eine Malory war und dass die Malorys aus härterem Holz geschnitzt waren als die meisten Menschen. Außerdem hasste sie es, wenn ihre Augen brannten, nachdem sie geweint hatte. Und da ihre Hände gefesselt waren, konnte sie sich nicht die Augen reiben. Aber es kostete sie ein hohes Maß an Selbstbeherrschung, die Tränen zurückzuhalten.
Dabei hatte der Tag so wundervoll begonnen. Sie hatte sich im Park präsentiert und nicht gewollt, dass ihr Vater sich Sorgen machte, das Pferd könne zu groß für sie sein oder sie könne es nicht lenken.
Er hatte ihr eine wunderhübsche Stute geschenkt, ein schlankes Pferd, das nur wenige Handbreit höher war als ihr Pony. Ihr Vater hatte ihr einen normalen Sattel gekauft, keinen Damensattel, mit der Bemerkung, dass sie noch ein paar Jahre Zeit hätte, ehe sie sich an den Damensattel gewöhnen musste. Sie hatte doch nur ausprobieren wollen, wie schnell die Stute reiten konnte, damit er sah, dass seine Sorgen unbegründet waren.
Doch der kurze Galopp hatte sie um eine Wegbiegung und aus der Sichtweite ihres Vaters geführt. Sie hatte bereits das Tempo gedrosselt und kehrtmachen wollen, als jemand sie aus dem Sattel gerissen, dem Pferd einen kräftigen Klaps verpasst und sie durch das Dickicht entlang des Pfades geschleift hatte. Die ganze Zeit über hatte man ihr den Mund zugehalten, damit sie nicht schreien konnte.
Eine Stimme hatte sie gewarnt: »Ein Mucks, und ich schneide dir die Kehle durch und werfe deinen leblosen Körper ins Gebüsch.«
Sie hatte keinen Ton von sich gegeben. Genauer gesagt, war sie im selben Moment in Ohnmacht gefallen.
Als sie wieder zu sich gekommen war, war sie an Händen und Füßen gefesselt und geknebelt gewesen. Der Sturz von den ungepolsterten Sitzbänken der Kutsche hatte sie aufwachen lassen.
Sie hatte nicht einmal versucht, wieder auf die Bank hinaufzukommen, denn sie hatte das Gefühl, dass ihr dazu die Kräfte fehlten. Und dann befiel sie entsetzliche Furcht. Sie spürte, dass die Kutsche in halsbrecherischem Tempo fuhr. Ihr zerbrechlicher Körper wurde auf dem dreckigen Boden hin- und hergeschleudert. Wo auch immer ihre Entführer sie hinbrachten, sie würde niemals lebend dort ankommen. Eher würde die Kutsche in tausend Stücke zerspringen.
Doch ihre Ängste waren unbegründet. Als die Kutsche zum Stehen kam, wurde ihr etwas über den Kopf gestülpt – ein Umhang oder eine Decke, die verhinderten, dass sie einen Blick auf die Umgebung erhaschen konnte. Sie wurde in den Stoff eingerollt, sodass sie von Kopf bis Fuß verhüllt war, ehe sie über den Boden geschleift und anschließend über eine knochige Schulter geworfen wurde, was ihr fast den Atem raubte.
Zu ihrem Leidwesen war es ihr bislang noch nicht gelungen, einen Blick auf ihren Entführer zu erhaschen, doch die Stimme, die sie bedroht hatte, war rau gewesen und hatte wie die einer Frau geklungen. Eine Umstand, der Judiths Angst jedoch nicht im Geringsten minderte.
Sie hörte Geräusche, unzählige, um genau zu sein, darunter auch Stimmen und hin und wieder Gelächter. Der Geruch nach Essen, der schwer in der Luft hing, führte ihr vor Augen, wie groß das Loch in ihrem Magen war. Kaum war Judith sich all dessen bewusst, da waren die Eindrücke auch schon wieder vorbei, so als wäre sie an einer offen stehenden Tür, einem Speisesaal oder einer Küche vorbeigegangen und entferne sich nun mit jedem Atemzug ein Stück weiter. Wegen der Dunkelheit, die
Weitere Kostenlose Bücher