Malory
frei atmen. Schließlich drehte auch sie sich um, wollte sehen, wer zum Teufel da erschienen war ... da gab auch; schon der Boden unter ihren Füßen nach.
Da stand er, keine drei Meter von ihr entfernt, groß, blond, elegant und unverschämt gutaussehend. Doch seine grünen Augen, mit denen er sie durchbohrte, und die ihr den Atem raubten, waren eiskalt, die bedrohlichsten Augen, in die sie jemals geblickt hatte. Ihr Geliebter, ihr Engländer, und, die Gewißheit legte sich wie würgende Hände um ihren Hals -
ihr Untergang.
32. Kapitel
»Was ist mir dir, Georgie?« fragte Boyd erschrocken. »Geht's dir nicht gut? Du siehst ganz blaß aus.«
Sie war unfähig zu einer Antwort. Sie fühlte zwar die schwere Hand ihres Bruders auf ihrem Arm, sah ihn aber nicht an. Sie konnte ihre Augen einfach nicht von James ab-wenden, geschweige denn glauben, daß er in Wirklichkeit vor ihr stand und nicht nur das Trugbild ihrer Phantasie war.
Er hatte seine Haare abgeschnitten, das war der erste Gedanke, der sich in ihrem Kopf festsetzte. Als sie sich Jamaika genähert hatten, trug er sein Haar zu einem Zopf zurückge-bunden, weil es so lang geworden war, und mit seinem blin-kendem goldenen Ohrring war er ihr wie ein leibhaftiger Seeräuber erschienen. Jetzt sah er ganz und gar nicht wie ein Seeräuber aus. Seine strohfarbene Mähne war zwar zerzaust wie immer, als wäre er gerade einem tosenden Sturm ent-ronnen, doch das war neuerdings der letzte Schrei bei den vornehmen Herren, die dafür allerdings Stunden vor dem Spiegel verbringen mußten. Die Locken über seinen Ohren ließen nicht erkennen, ob er seinen Ohrring noch immer trug.
In diesem eleganten Aufzug hätte er ohne weiteres an einem königlichen Ball teilnehmen können, so vornehm war er in Samt und Seide gekleidet. Wenn sie geglaubt hatte, er se-he nur in Türkis überwältigend aus, dann hatte sie sich gründlich getäuscht. In dem dunklen Burgunder sah er atemberaubend aus, und die Noppen seines Samtanzuges funkelten wie Edelsteine. Seine seidenen Strümpfe waren genauso blütenweiß wie die modische Krawatte, an der ein dicker Diamant befestigt war, der allein schon jeden Blick auf ihn gezogen hätte, wenn er nicht selbst eine so eindrucksvolle Erscheinung gewesen wäre.
Georgina hatte jedes Detail in sich aufgesogen, bevor er sie mit einem derart warnendem, wenn nicht vernichtendem Blick anstarrte, daß sie am liebsten davongelaufen wäre. Sie hatte James Malory in ihren gemeinsamen Wochen auf See schon in den unterschiedlichsten schlechten Stimmungen erlebt, aber nie so ärgerlich, daß er die Beherrschung verloren hätte - falls er überhaupt eine besaß. Doch was sie jetzt in seinen Augen las, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Er war so maßlos wütend, daß sie sich gar nicht vorstellen konnte, was als Nächstes passieren würde. Doch das sollte sie gleich erfahren.
»Kennst du ihn etwa auch?«
Auch? Oh natürlich, Boyd hatte ja vorhin gesagt, daß er ihm irgendwie bekannt vorkäme, doch da mußte er sich irren. Bevor sie noch irgend etwas antworten konnte, sofern der Knoten in ihrem Hals es zugelassen hätte, kam James schon betont lässigen Schrittes auf sie zu.
»George in einem Kleid? Wie ungewöhnlich!« Seine trok-kene Stimme bahnte sich den Weg zu ihr und weiter durch den ganzen Salon. »Es steht dir gut, ganz außerordentlich gut. Doch ich bevorzuge dich in Hosen, die lassen manch entzückende ...«
»Wer sind Sie?« unterbrach ihn Boyd scharf, ging angriffslustig auf James zu und schnitt ihm seine unverschämte Re-de und auch den Weg ab.
Für einen kurzen Augenblick schien es, als würde James ihn einfach zur Seite schieben, und Georgina zweifelte nicht daran, daß ihm das auch gelingen könnte. Er und Boyd waren ungefähr gleich groß, doch während Boyd eher hager und zäh war wie seine Brüder, hatte James die Statur von einem Preisboxer, breit, massig und ungeheuer muskulös.
Boyd war zwar kein Mann, den man so leicht übersah, doch neben James wirkte er mit seinen sechsundzwanzig Jahren wie ein Schuljunge.
»Verflucht noch mal, du willst dich doch nicht etwa einmischen, du halbes Hemd?«
»Ich frage, wer Sie sind«, wiederholte Boyd nochmals und obwohl ihm vor lauter Wut über das unverschämte Benehmen des anderen langsam die Zornesröte ins Gesicht stieg, fügte er höhnisch hinzu: »Abgesehen davon, daß Sie Engländer sind.«
Plötzlich wich jegliches Amüsement aus dessen Gesicht.
»Abgesehen davon, daß ich Engländer
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