Malory
mich.«
Einen Augenblick lang biß sie sich entschlossen auf die Lippen. Es waren höchst verführerische Lippen.
Wieder rührte sie in dem Kessel, eine sinnliche Bewegung, die auch seine Gefühle durcheinanderbrach-te. Sie schien tief in Gedanken versunken. Dann setzte sie sich zurück und sah ihm in die Augen. Sie starrte ihn an. Lange und eindringlich. Das brachte ihn auf den merkwürdigen Gedanken, daß sie tatsächlich in die dunkelsten Winkel seiner Seele sehen konnte. Die Spannung wurde so unerträglich, daß er am liebsten gebrüllt hätte.
Schließlich sagte sie mit sanfter Stimme: »Sie sind kein glücklicher Mensch. Es gibt keinen Grund für Ihre Schwermut. Im Gegenteil, es gibt sehr vieles in Ihrem Leben, das Sie glücklich machen könnte. Leider ist dies nicht der Fall.«
Daß er melancholisch war, konnte man leicht erkennen. Seine Freunde hatten ihn ebenfalls darauf angesprochen. Es überraschte ihn also nicht, wenn sie es ihm ansah.
Verärgert darüber, daß das, was sie als ›Hellsehen‹ bezeichnete, von jedem ›gesehen‹ werden konnte, trieb er sie in die Enge. »Vielleicht kannst du mir auch sagen, warum?«
»Vielleicht«, antwortete sie, und einen Augenblick lang war Mitleid in den kobaltblauen Augen zu sehen. Er fühlte sich plötzlich unbehaglich. »Sie haben das Interesse an Dingen verloren, die Ihnen früher Spaß machten, aber Sie haben keinen Ersatz dafür gefunden. Haben Sie deswegen die Freude am Leben verloren? Und empfinden nur Langeweile? Ich bin mir da nicht ganz sicher. Ich weiß nur, daß Ihrem Leben etwas sehr Wichtiges fehlt. Aber das stört Sie erst seit kurzem.
Vielleicht, weil Sie zu lange allein gelebt haben, ohne Familie. Man wird für die Fürsorge und Liebe belohnt, die man seiner Familie entgegenbringt. Ihnen aber ist dies verwehrt. Vielleicht auch nur, weil sie noch keinen Sinn in Ihrem Leben gefunden haben.«
Diesmal war es mehr als bloße Vermutung. Was sie gesagt hatte, traf mit erschreckender Deutlichkeit zu. Ei-nerseits wollte er mehr hören, andererseits aber auch wiederum nicht. Wenn er ehrlich war, wollte er etwas hören, das sie als Scharlatan entlarvte.
»Und was siehst du noch?«
Unbekümmert zuckte sie die Achseln. »Unwichtige Dinge, die nichts mit Ihrem Wohlbefinden und Ihrer geistigen Verfassung zu tun haben.«
»Zum Beispiel?«
»Beispielsweise könnten Sie sehr reich sein, aber Ihnen hegt nicht viel daran, Geld anzuhäufen.«
Er hob eine Braue. »Wie bitte? Wieso kommst du darauf, ich sei nicht reich?«
»Mit meinen Maßstäben gemessen sind Sie es. Ihren Verhältnissen entsprechend sind Sie nur einigermaßen vermögend. Sogar Ihr Gutsverwalter verdient mehr als das, was er für Sie erwirtschaftet.«
Christopher wurde ungehalten. »Das ist eine verun-glimpfende Bemerkung, du neunmalkluges Weib, die du mir lieber auf der Stelle erklärst. Wie kannst du das überhaupt wissen?«
Sie schien nicht im mindesten betroffen zu sein, daß sie seinen Zorn auf sich gelenkt hatte. »Eigentlich kann ich es nicht wissen«, antwortete sie schlicht. »Aber ich habe, ohne daß es meine Absicht war, viel über Sie ge-hört, als ich heute in Havers war. Da Sie nur selten hierher kommen, sind Sie ein beliebtes Gesprächsthema. Oft wurde Ihr Verwalter erwähnt und wie er Sie vom ersten Tag an hinters Licht führte. Manche sind der Meinung, etwas anderes habe ein Lord nicht verdient. Andere wiederum, die persönlich mit dem Mann zu tun hatten, verabscheuen ihn. Zwei verschiedene Beweggründe und eine Aussage sprechen die Wahrheit. Und wenn es nicht gestimmt hätte, Lord Engländer, dann hätten Sie einfach darüber gelacht.
Statt dessen beweist Ihr Zorn, daß ich nur Ihren eigenen Verdacht gegenüber diesem Mann bestätigt habe.«
»Noch etwas?« fragte er ungehalten.
Sie lächelte ihn an. »Ja. Aber ich glaube, für einen Abend habe ich Sie genügend verärgert. Möchten Sie unser einfaches Abendessen mit uns teilen?«
»Ich habe bereits gegessen. Vielen Dank. Mir wäre lieber, jetzt allen Ärger vom Tisch zu fegen, damit Platz für . .. andere Gefühle bleibt. Also, weiter damit. Zer-lege mich in kleine Stücke.«
Sie errötete bei dem Wort ›andere‹ Gefühle, da sie sehr wohl verstand, was er damit meinte. Das entschärfte seinen Ärger und erinnerte ihn daran, daß er hier saß, weil es ihn nach ihr verlangte und daß er herausfinden mußte, wie er sich diesen Wunsch erfüllen konnte.
»Sie ziehen nicht gern die Aufmerksamkeit anderer auf sich«,
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