Malory
Gräfinwitwe an ihn herangetreten war. Er kannte sie vom Sehen, konnte sich aber nicht erinnern, jemals ein Wort mit ihr ge-wechselt zu haben. Da er ihr kein Unbekannter war, hatte sie sich offensichtlich an ihn erinnert.
Auf ihre Verwunderung, ihn hier anzutreffen, erwiderte er skeptisch: »Das bezweifle ich, Lady Siddons, wenn man Ihren Hausgast in Betracht zieht.«
»Nun, lassen Sie uns offen miteinander reden.« Die Mundwinkel verzogen sich zu einem leichten Lächeln.
»Sie hatten das große Glück, dieses Juwel für sich zu gewinnen und haben es aus Torheit fortgeworfen.«
»Ich habe nichts fortgeworfen, Madam«, antwortete er steif, sehr wohl wissend, was sie meinte, und fuhr im gleichen Tonfall fort. »Vor dem Gesetz gehört dieses Juwel immer noch mir.«
Ihre Braue schoß in die Höhe. Vielleicht ein Zeichen, daß er sie diesmal überrascht hatte, doch schien sie nur neugierig zu sein. »Ich finde Ihr Verhalten höchst merkwürdig, wenn man berücksichtigt, daß ein Marquis doch genügend Möglichkeiten haben müßte, eine Angelegenheit dieser Art schicklich zu beenden. Vielleicht wurden Sie aber auch aufgehalten, um die Sache zu einem für Sie standesgemäßen Ende zu bringen?«
»Möglicherweise habe ich nicht die Absicht, dergleichen zu tun«, gab er zurück.
»Nun, damit schaffen Sie ein Dilemma. Daher wäre es ratsam, die junge Dame davon in Kenntnis zu setzen, da sie einen anderen Eindruck zu haben scheint. Oder glauben Sie etwa, daß Sie hier auf der gesellschaftlichen Szene auftaucht, nur um Ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen?«
»Allein die Tatsache, daß sie das tut, ist mir unbegreiflich«, erklärte sie. »Oder ist Ihnen entgangen, wer sie wirklich ist?«
»Wer sie ist? Sie meinen abgesehen davon, daß sie Ihre Frau ist?« Sie rieb es ihm wieder unter die Nase und führ nach einer eindrucksvollen Pause fort. »Ich weiß nicht, was Sie denken. Jedenfalls ist sie die Nichte meines lieben Freundes. Ich glaube nicht, daß Sie seine Bekanntschaft gemacht haben. Begleiten Sie mich, Mylord, und wir werden die Sache richtigstellen.«
Die alte Gräfin machte auf dem Absatz kehrt, in der Annahme, er würde ihr folgen. Er tat es auch, da er Sir William Thompson diesbezüglich einige dringende Fragen zu stellen hatte.
Der alte Herr war allein. Wie eine Schildwache stand er neben einem riesengroßen Kamin und warf von dort aus ein ›väterliches‹ Auge auf seine junge Verwandte‹. Lady Siddons stellte die beiden einander kurz vor und ließ sie dann allein.
Ohne lange um den heißen Brei herumzureden, stellte Christopher die entscheidende Frage. »Wieso haben Sie Anastasia als Ihre Nichte ausgegeben?«
William antwortete nicht sofort. Er blickte an Christopher vorbei auf die Gruppe in der Mitte des Raums.
Sein Gesichtsausdruck war nachdenklich. Schließlich nippte er an der Teetasse, die er in der Hand hielt.
Christopher hatte nicht den Eindruck, daß er nach einer Antwort suchte. Er vermutete, daß er ihn absichtlich warten ließ. Um seine Ungeduld wachsen zu lassen? Um ihn zu strafen? Nein, das war zu weit hergeholt. Vielleicht hatte der alte Herr ihn nicht verstanden, das wäre immerhin möglich in Anbetracht seines Alters, denn er mußte weit in den Siebzigern sein.
Aber dann sagte Sir William in einem sanften Ton, der eher zu einer seichten Konversation gepaßt hätte als zu seinen eher schmerzhaften Erinnerungen: »Meine Schwester verschwand vor ungefähr zweiundvierzig Jahren, Lord Malory. Ich habe mir nie verziehen, wenigstens nicht bis vor kurzem, daß ich damals nicht ihre Partei ergriffen hatte, als sie mit meinen Eltern über die Wahl ihres künftigen Ehemanns stritt. Sie lief lieber davon, als sich dem Wunsch der Eltern zu fü-
gen ... und wir haben sie weder je wiedergesehen noch von ihr gehört. Sie hatte wunderschönes schwarzes Haar. Es ist nicht so abwegig, daß Anastasia ihre Tochter sein könnte. Je länger ich darüber nachdenke, desto wahrscheinlicher erscheint es mir.«
»Aber sie ist es nicht, oder?«
William blickte ihn wieder an. Er schien ein wenig amüsiert, als er meinte: »Spielt es denn eine Rolle?
Wenn die Gesellschaft, deren Diktat Sie sich willig fü-
gen, sie dafür hält? Mylord wünschen Tatsachen zu hören?«
»Das wäre äußerst hilfreich«, sagte Christopher trocken.
Sir William lächelte. »Also gut. Es ist eine Tatsache, daß ich selbst mit diesen Zigeunern durch die Lande gezogen bin. Der Grund ist nicht wichtig, aber ich befand mich in
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