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Man Down

Man Down

Titel: Man Down Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: André Pilz
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kam, wo ich sinnlos Stunden mit Warten in einem stickigen Flur voller schweigender Menschen verbracht hatte, lag mein Bruder auf dem Boden, mitten in der Wohnung, aufgedunsen, aufgerissene Augen, blaue Lippen, die Haare zerzaust, und ich legte mich neben ihn, legte meine linke Hand auf seinen Bauch, ich verspürte solchen Schmerz, unendliche Verzweiflung, ich hatte das Gefühl, ich würde gefesselt in einer Grube liegen und jemand würde Sand auf mich schaufeln. Immer mehr Dreck fiel auf mich. Immer schwerer wurde das Gewicht auf meiner Brust. Der Sand drang in meinen Mund und in meine Nase. Ich schnappte nach Luft. Die Welt verdunkelte sich. Ich riss die Augen auf, aber ich war blind.
    Dann fiel kein Sand mehr. Es hörte einfach auf. Ich konnte mich nicht mehr bewegen, konnte kaum mehr atmen, nicht mehr sehen, aber sterben konnte ich auch nicht.
    Ich bin lebendig begraben. Ich flehe nach dem Gnadenstoß, aber er wird mir nicht gewährt. Ich lebe und bin doch längst tot. Ich bin tot und lebe doch. Ich bin ein verfluchter Zombie, für immer verdammt, in einer Zwischenwelt zu leben.
    Scheiße, ich weiß nicht, wann das angefangen hat mit den Halluzinationen. Aber die jagen mir eine scheiß Angst ein, das kannst Du mir glauben. Ich erschrecke über jede Kleinigkeit – ein lautes Geräusch oder eine schnelle Bewegung, und mein Herz pocht wie wild und ich krieg mich kaum mehr ein vor Schreck. Seit ein paar Wochen ist es ganz arg, ich sehe eine abgetrennte Hand hinter dem Heizkörper, ich beiße in eine Quarktasche und sehe, dass ich einer schwarzen Schnecke den Kopf abgebissen habe, und das kopflose Wesen bewegt sich noch immer in dem Teig und der Schleim tropft aus der Wunde, ich muss mich auch ständig umdrehen, weil ich den ganzen Tag das Gefühl habe, verfolgt zu werden, ich sehe in der Nacht finstere Gestalten herumlungern, hinter jedem Baum, hinter jedem geparkten Auto, überall lauern mir diese Teufel auf, überall ist Bewegung, ist Gefahr, sie machen mir ne Heidenangst, und ich habe das Gefühl, mit jedem Mal durch den Schrecken und das Herzrasen um Jahre zu altern.
    Scheiße ja, ich sollte kürzer treten. Und ja, ich werde kürzer treten, Florian, ich schwör! Ich habe Marion, ich brauch keine fuck Drogen mehr. Aber die Drogen brauchen mich. Das Teufelszeug, das lässt mich nicht mehr aus seinen Klauen. Das gibt nicht Frieden, bis es meinen Verstand und meine Seele hat.
    Ich legte mich ne Runde schlafen und wachte auf, als im Stiegenhaus die Nazis lärmten. Es dauerte meist eine halbe Stunde, ehe sie vom obersten Stock nach unten gelangt waren, wenn sie zum Fußball gingen. Meistens brüllten sie was von scheiß Türken und schimpften in Stadiongesängen über Jenajuden. So wie sie die Stiege runterpolterten, schienen die Affen niemals nüchtern zu sein. Dieses Mal zog sich ihr Auszug noch mehr in die Länge. Der ganze Lärm schien sich vor meiner Wohnung abzuspielen. Und tatsächlich – es polterte an die Tür, an meine Tür, sie wollten mich, keine Türken, keine Jenafans, sie wollten mich. Ich griff nach dem Eisen, stand auf und sah durch den Spion. Ich kannte die Fresse, die mir entgegengrinste, also verstaute ich das Eisen unter einem grauen Lonsdale -Kapuzenpulli, der wie der Rest meiner Kleider verstreut am Boden lag, und öffnete. „Armin?“
    Er trug ein ärmelloses T-Shirt, damit die ganze Welt seine hässliche Tätowierung, einen muskelbepackten Wikinger mit Schnauz und Schwert, auf seinem Oberarm sehen musste.
    „Servus Samweber.“
    Armin Gasteiger. Ein muskelbepackter Giesinger mit Schnauz und nem Alfa Romeo. Er war mit mir an jenem Abend als Einziger noch aufm Dach gewesen.
    „Wie geht’s?“, sagte er, während seine Kameraden die Treppe runterstolperten. Er fuhr sich nervös durch seine schwarzen Locken. Seine Augen waren glasig und rot. „Alles klar?“
    Wir gaben uns die Hände. „Geht so.“
    Seine Hand war verschwitzt, heiß und kalt zugleich.
    „Was willst du?“
    „Hast du n Bier?“
    „Nicht für dich.“
    Ich wollte die Tür schließen, aber er stellte seinen staubigen Arbeitsschuh mit der übergroßen Stahlkappe dazwischen.
    „Was soll das heißen?“, sagte er.
    „Warum hast du mich nach meinen Unfall nie im Krankenhaus besucht? Keiner von euch war da.“
    „Man durfte dich gar nicht besuchen.“
    „Nur die ersten drei Tage nicht.“
    Gasteiger steckte sich zwei Finger in den Mund und biss an seinen Nägeln. „Der Meyer wollte nicht, dass wir zu viel

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