Man Down
Bushaltestelle. Ich erwartete, dass Marion mir folgen würde, aber sie folgte mir nicht. Vielleicht dachte sie ja, ich würde nur aufs Klo gehen, aber ich fuhr nach Hause, verdunkelte mein Zimmer, zog mich aus und boxte. Ich boxte gegen einen unsichtbaren Gegner, links, rechts, links, aber der Gegner war schneller, linker Haken, rechte Gerade, er traf mich am ganzen Körper, links, rechts, doppelrechts, er war stärker, seine Schläge raubten mir den Atem. Ich nahm Schmerztabletten, damit ich die Treffer nicht mehr spürte, ich schlug und schlug, bis ich vor Erschöpfung auf die Matratze fiel und kapitulierte. Ich zog mich aus, duschte mich nicht, nahm die doppelte Ration Schlaftabletten und fand doch keine Ruhe. Ich war so aufgewühlt, so voller Wut und Zorn und Enttäuschung. So fertig. Ich fand keinen Schlaf. Wenn sie wirklich ne Nutte war. Wenn Marion wirklich auf n Strich ging … oh mein Gott! … wenn das wahr war …
Manchmal, da mag man nicht mehr. Da fühlt man sich zerschlagen, ohne jede Kraft. Da scheint alles vorbei zu sein. Alles verloren. Da will man nur noch schlafen und nie mehr aufwachen. Nur mehr weg sein und nie mehr zurückkommen. Ich schalte mein Handy aus und beschließe, mein Bett nie mehr zu verlassen. Ich bleibe für immer hier. Ich hasse die Sonne, hasse den Frühling. Es soll nur noch Nacht sein. Nacht und Winter. Ich will keinen mehr sehen. Keinen mehr hören. Ich will alleine sein.
***
Ich durchsuchte alle Kontaktanzeigen. Eine Precious_ 19 existierte nicht mehr, das Profil war gelöscht worden. Ich durchsuchte die Kontaktanzeigen nochmals, das dauerte fast drei Stunden, aber schließlich wurde ich fündig. Dieselben Fotos, ein ähnliches Profil, nur der Name war neu. Michelle_ 20 . Ich erstellte meinerseits ein Profil, nannte mich Gerry_ 25 und ließ – damit es nicht zu auffällig wirkte – ein paar Tage verstreichen, ehe ich Michelle_ 20 kontaktierte. Michelle gehörte zu den Frauen, die sich in der Rubrik „finanzielle Interessen“ eingetragen hatten. Ich schrieb, dass ich gerne mal mit ihr … und gerne auch zu dritt … und wie viel das denn kosten würde und wo es stattfinden sollte. Michelle meldete sich nicht. Ich schrieb noch einmal, sie antwortete, es würde ihr Leid tun, sie hätte im Moment kein Interesse. Ich versuchte sie mit Geld zu locken, bot eine astronomische Summe.
Sie antwortete nicht.
Ich war erleichtert. Vielleicht war Michelle gar nicht Marion, und ich vergeudete meine Zeit. Aber Gugls Theorie ließ mir keine Ruhe. Ich wollte Shane nicht fragen, Shane schrieb heimlich SMS mit ihr, was konnte ich von ihm erwarten? Nur eine weitere Lüge.
Dann rückte der Samstag näher, an dem sich Shane und Marion verabredet hatten. 21 Uhr. Aber wo? Ich fuhr in dieser Woche nicht in die Schweiz, ich schrieb Shane, ich hätte eine Magengrippe und würde im 10-Minutentakt kotzen, und ich musste wirklich kotzen. Ich kotzte vor Aufregung, ich kotzte vor Angst. Ich kotzte, weil ich mich selber ankotzte.
An jenem Samstagmorgen beschloss ich, am Abend um halb 9 vor Shanes Block am Wettersteinplatz zu stehen. Vielleicht trafen sie sich dort. Vielleicht im Heim. Vielleicht in der Stadt. Die Chancen waren nicht besonders groß, aber mein Bauch sagte, sie würden sich bei Shane treffen.
Den ganzen Tag war ich hinüber. Ich nahm das Eisen und hielt es mir an den Schädel. Ich nahm eine Wodkaflasche und trank sie auf meiner Matratze, bis ich nicht mehr trinken konnte. Ich wollte pissen, aber ich kam nicht mehr hoch. Ich kam einfach nicht mehr hoch. Ich pisste in meine Hose.
Fuck Shane.
Fuck Marion.
Ich küsste das Eisen. Eine Pistole macht aus dir einen anderen Menschen. Du bist näher am Tod, näher am Leben. Das Eisen war das geilste Ding, das ich je besessen habe, ich schwör. Du kannst dir jederzeit die Rübe wegblasen. Du kannst jederzeit gehen. Du musst vor niemandem mehr Angst haben.
Ich sehne einen Krieg herbei. Einen gerechten. Einen, für den es wert ist zu sterben. Einen Krieg gegen Nazis, Islamisten, Ausbeuter oder Menschenfresser. Ein Soldat in so einem Krieg zu sein, das würde meinem Leben einen Sinn geben. Ein Soldat in so einem Krieg zu sein, würde mir den Stolz zurückgeben. Ich müsste keine Angst mehr vor irgendwas haben, weil jeder Tag der letzte wäre. Alles wäre so einfach. Kämpfen, töten, seinen Auftrag erfüllen. Für Verpflegung und Unterkunft wäre gesorgt, und meine einzigen Klamotten wären die Uniform. Ich müsste keinen Gedanken mehr an Geld
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