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Man muss das Kind im Dorf lassen: Meine furchtbar schöne Jugend auf dem Land (German Edition)

Man muss das Kind im Dorf lassen: Meine furchtbar schöne Jugend auf dem Land (German Edition)

Titel: Man muss das Kind im Dorf lassen: Meine furchtbar schöne Jugend auf dem Land (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Gruber
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es, fremde Menschen anzusprechen. Einfach so. Überall: in der U-Bahn, im Café, in der Wirtschaft, am Flughafen, in Geschäften. Nicht aus Neugierde oder Sensationsgier oder weil ihm vielleicht langweilig ist. Nein, er interessiert sich einfach sehr für andere Menschen. Er will etwas über ihr Leben erfahren, wie es ihnen gerade geht und natürlich wie es den Kindern (falls vorhanden) und den Eltern (falls noch vorhanden) geht. Was sie so essen, trinken und machen (beruflich und privat). Und was sie denken. Über den längst überfälligen Mindestlohn in Deutschland, über Seitensprünge, das Preisgefälle beim Bier in Stadt und Landkreis (»urbi et orbi«), Tätowierungen an schönen Frauen (»Braucht’s des, ha?«) und wo es am Viktualienmarkt die beste Bratwurst gibt.
    Dabei gibt es allerdings manchmal ein Problem: Dass ein völlig Fremder mit einem redet, einfach so, das ist ungewöhnlich heutzutage. Man merkt es an den Reaktionen der Menschen, wenn mein Vater sie anspricht. In der U-Bahn zum Beispiel:
    »Heut’ is’ wieder voll, ha?« Wenn die gewünschte Reaktion ausbleibt, setzt er noch ein «Wo’s nur allaweil alle hinwolln, gell!?« nach.
    Bevor die Angesprochenen sich entschieden haben, ob sie finden, dass sie es mit einem Spinner oder einfach nur mit einem freundlichen älteren Herrn zu tun haben, sind sie meist schon wieder ausgestiegen.
    Ganz so leicht macht er es Menschen zum Beispiel in einem Café nicht. Denn mein Vater sucht sich auch in einem halbleeren Lokal immer einen Tisch aus, wo schon Leute sitzen, weil er der Meinung ist: »Allein essen kann ich ja daheim auch – da brauch’ ich ned wegfahr’n!«
    Wo er recht hat, hat er recht. Trotzdem ist es vor allem meiner Mama immer furchtbar peinlich, wenn er bereits beim Betreten eines Lokals nach einem Tisch Ausschau hält, der einen potenziellen Gesprächspartner aufzuweisen hat (gern auch mehrere). Wenn er glaubt, den Tisch mit der passenden Gesellschaft in Form einer alleinstehenden Dame Anfang vierzig, die bei einem Cappuccino in einem Buch liest, ausfindig gemacht zu haben, ruft er meiner Mutter und mir freudig auf den Tisch deutend zu: »Nehm’ ma den, ha?« Und während er schon auf den Platz mit der armen Ahnungslosen zusteuert, zischt meine Mama ihm halblaut zu: »Gell, aber die Dame lasst in Ruh!« Solche oder ähnlich mahnende Kommentare überhört das in langen Ehejahren in Auf-Durchzug-schalten geübte Ohr meines Vaters natürlich geflissentlich, und während meine Mutter und ich uns in unser Schicksal fügen und ihm an den Tisch folgen, überrascht er die daran sitzende Dame bereits mit den Worten: »Entschuldigen S’, wär’ bei Ihnen noch frei?«
    Oft zögert die angesprochene Person kurz, weil sie sich im Raum umsieht und sich darüber wundert, dass dieses kleine kuriose Dreiergrüppchen ausgerechnet an ihrem Tisch Platz nehmen will, wo es doch noch so viele unbesetzte Tische gäbe. Und wo sie doch in Ruhe bei einem Cappuccino (kein Kuchen – eine gute Figur verträgt keinen Kuchen, Sie verstehen!) in ihrem Buch lesen möchte. Dies ist eine Tatsache, die mein Vater auch akzeptiert. Und er lässt die Dame in Ruhe lesen, weil er ja mit dem Aussuchen des Kuchens (immer Kuchen – ein kleines Stückchen Kuchen verträgt jede Figur, Sie verstehen!) beschäftigt ist. Aber kaum hat die Kellnerin unsere Bestellung aufgenommen, lauert er auf seinen Moment. Den Moment nämlich, wo die Dame ihr Buch sinken lässt und an ihrem Cappuccino nippt. Der perfekte Moment für meinen Vater – im Leben ist alles eine Frage des Timings –, um seinen Standardsatz anzubringen: »San’s öfter da?«
    Kurzes Schweigen. Ich sehe, die Dame überlegt:
    Ein Psychopath? (»Aber er schaut so harmlos aus mit seiner braunen, etwas zu kurzen Cordhose, seinem Flanellhemd und seinem Trachtenjanker!«)
    Ein Perverser? (»Aber die beiden Frauen, die er dabeihat, schauen aus wie seine Frau und seine Tochter. Gott, die Tochter! Macht mit ihren Eltern einen Stadtbummel, weil sie wahrscheinlich grad von ihrem Mann verlassen worden ist!«)
    Eine Nervensäge? (»Adieu, zweiter Cappuccino. Ich trinke eh viel zu viel Kaffee, seit Karl-Heinz mich verlassen hat!«)
    Wenn meinem Vater die Antwort zu lange dauert, dann setzt er ein »Die Kuchen da herin schaun sehr gut aus!« nach.
    Das ist der Moment, wo meine Mutter und ich ein intensives Gespräch vortäuschen – über Mode und die Läden, die wir heute noch heimsuchen wollen. Weil es uns ein wenig peinlich ist,

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