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Man muss das Kind im Dorf lassen: Meine furchtbar schöne Jugend auf dem Land (German Edition)

Man muss das Kind im Dorf lassen: Meine furchtbar schöne Jugend auf dem Land (German Edition)

Titel: Man muss das Kind im Dorf lassen: Meine furchtbar schöne Jugend auf dem Land (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Gruber
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er nicht musikalisch genug. Und vielleicht hatte ihm seine Mutter auch abgeraten, denn man weiß ja, wie alle Künstler enden. Man hätte Metzger werden können. Ein damals angesehener Beruf, dessen großer Vorteil es war, dass man immer genug zu essen hatte. Aber für einen Metzger war er nicht kräftig genug. Kaum vorstellbar, dass dieser feingliedrige Mann eine halbe Sau hätte schultern können. Für einen Fußballer war er zu groß und zu schlaksig, und Basketball gab es meines Wissens nach dem Krieg bei uns noch nicht. Vielleicht wäre er ja gern ein fußballspielender Pianist geworden. Oder Schriftsteller. Ich finde, als Mensch, der keine anderen Menschen mag, hätte er halt irgendetwas machen müssen, wo er mit möglichst wenig Menschen in Kontakt gekommen wäre, wie zum Beispiel Maler oder Polarforscher. Stattdessen musste er 1300 Schulkinder und den dazugehörenden Lehrerkörper verwalten. Ich vermute, da wäre ich auch unglücklich und bös geworden.
    Als ich mit hochrotem Gesicht und noch mehr schwitzend endlich mein Klassenzimmer erreicht hatte, erlebte ich den nächsten Schock: Fast dreißig Kinder waren in dem Klassenzimmer zusammen mit ihren Eltern, manche hatten sogar Oma oder Opa mitgenommen, einige beides. Alles in allem dürften sich circa hundert Personen dort befunden haben. Noch nie zuvor hatte ich so viele Menschen in einem Raum gesehen, außer in der Kirche, aber da sieht man sie ja nicht so gut wegen des vielen Weihrauchs. Und – was das Schlimmste war – ich kannte nur zwei Menschen in dem Raum: Gabriele Haindl von der Zimmerei Haindl in Grucking und ihre Mutter, die sie begleitete (als Zimmerersgattin hatte sie ja keine Stallarbeit). Wir waren schon zusammen in die Grundschule Reichenkirchen gegangen, und ich war sehr froh, als ich sah, dass sie mir einen Platz neben sich freigehalten hatte. Am ersten Schultag in der Grundschule, damals vor vier Jahren, da hatten wir beide zufällig das gleiche Kleid an: gelb, mit Puffärmeln und kleinen weißen Margeriten am Ausschnitt. Wir mussten beide lachen, als wir im gleichen Kleid auf unserem Klassenfoto der ersten Klasse verewigt wurden. Heute hätte ich mich sehr gefreut, wenn sie auch ein rotes Dirndl mit blauer Schürze angehabt hätte, als moralische Schützenhilfe quasi. Aber Gabi hatte sich bereits den Stadtkindern optisch angepasst. Ich weiß zwar nicht mehr genau, was sie trug, aber es war in jedem Fall so weit von einem Dirndl weg wie Tittenkofen von den Pariser Champs-Elysées. Unser Dorf liegt zwar nur circa sechs Kilometer von der Kreisstadt entfernt, diese Entfernung reichte aber schon aus, um die Stadtkinder anders aussehen zu lassen. Und sie sahen nicht nur anders aus (kein Haferlhaarschnitt, Urlaubsbräune), sie redeten auch ganz anders: Einige sprachen zwar Dialekt, aber er war anders als unser dörfliches, kerniges Bayerisch, es war dieses gepflegte Vorstadtbayerisch, das ich heute sehr gern als Dallmayr-Bayerisch bezeichne.
    Sie sagten zum Beispiel nicht: »I geh ins Klassenzimmer eini .«
    Sondern: »I geh ins Klassenzimmer rein .«
    Sie gingen auch nicht in den ersten Stock in die Schulbibliothek auffi, sondern nauf .
    Und in den Stuhlreihen im Klassenzimmer rutschte man nicht umme , sondern nüber . Und nach dem Unterricht fuhr man mit dem Radl heim und nicht hoam .
    Und wenn es an grauen Novembertagen gar nicht hell werden wollte, dann sagte der Lehrer zu einem von uns: »Mach as Licht an.« Und nicht wie die Oma daheim: »Reib as Liacht auf.« Denn die Lichtschalter mit Drehmechanismus, die es früher (und in Opas Zimmer immer noch) gab, die kannte natürlich von diesen Kindern und auch von den jüngeren Lehrern keiner mehr.
    Alles kleine, feine, aber für mich damals gewaltige Unterschiede.
    Gerade deshalb war ich sehr erleichtert, als ich feststellte, dass alle Kinder nett waren und mich – ohne Vorbehalte – ein bisserl betrachteten, wie man ein exotisches Tier im Zoo bestaunt. Vor allem meine Pausenbrote sollten bei meinen Mitschülern in Zukunft noch für viel Furore sorgen. Sie riefen bei meinen Klassenkameraden die gesamte Emotionspalette hervor: von Verwunderung (schwammige Marmeladenbrote, die mein Babba immer in Bernbacher-Nudel-Tüten einwickelte, die ich – selbstverständlich – nach der Schule wieder mit heimzubringen hatte, wo sie ausgewaschen, über Einweckgläsern getrocknet und wiederverwendet wurden) über Erstaunen (von meiner Mama schmalzgebackene exotische Speisen wie »Schuxn« oder

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