Man muss das Kind im Dorf lassen: Meine furchtbar schöne Jugend auf dem Land (German Edition)
noch bis zum nächsten Tag warten. Als sie aber morgens in die Küche kam, um das gute Stück verzehrfertig zu machen, saß der Opa schon mit einem Riesentortenkeil auf dem Teller bei seinem hochkalorischen Frühstück. Sie hätte die unfertige Torte eben besser verstecken oder als unfertig kennzeichnen müssen, denn als sie den Opa fragte: »Opa, die is’ doch noch gar ned fertig, warum hast’n die scho angeschnitten?«, da meinte er nur: »Ah so. Ja, aber die schmeckt a so auch.«
Ich glaube, einer der schönsten Tage war für ihn sein Namenstag, denn da machte meine Mutter ihm immer eine große Prinzregententorte ganz für ihn allein. Beim Anblick der Torte hatte er fast immer Tränen der Rührung in den Augen, und er bot uns Kindern großzügigerweise davon an, aber – wie alle Kinder – waren wir nicht besonders scharf auf fettige Cremetorten, sodass er den Großteil seines Geschenks allein wegspachteln konnte. Und obwohl Frauen ihm durch und durch suspekt waren, hatte er meine Mutter allein schon wegen ihrer Koch- und Backkünste zu schätzen gelernt, und er hätte nie etwas, das sie ihm vorsetzte, verschmäht.
Zur Brotzeit trank er immer ein Helles, das er sich nicht auf einmal in ein Glas einschenkte, sondern immer wieder nachgoss – eine Angewohnheit, die ich lustigerweise übernommen habe. Das Bier bleibt dadurch frischer und spritziger und wird nicht so schnell »lack«, also abgestanden. Wenn mein Vater ab und zu eine Biermarke kaufte, die ihm nicht so schmeckte, dann gab er einen Löffel Zucker ins Bier, damit es »ned so hantig is’«, denn gar zu bitteres Bier mochte er nicht.
In der Fastenzeit allerdings verzichtete der Opa auf seine tägliche Hopfenspülung. Da gab es dann zur Brotzeit Marmeladenbrote und Lindenblütentee, den meine Oma den ganzen Nachmittag über in der kalten Jahreszeit in einem großen Topf auf unserem alten, leicht windschiefen Holzofen vor sich hinsimmern ließ. Ab und an trank er auch zur Brotzeit ein rohes Ei. Wir Kinder fanden das total eklig, wollten aber immer dabei zuschauen, wie er das Ei an zwei Seiten anpikste und dann unter lautem Gezutzel ausschlürfte. Unter lauten »Pfui Deife«-Rufen schnappten wir uns dann ein Orangenlimo (»Gracherl«) und ein Radibrot, das der Opa uns hergerichtet hatte, und rannten wieder hinaus, um weiterzuspielen.
Meine Eltern machten meistens nach Opa und Oma Brotzeit, so gegen siebzehn Uhr, um danach in den Stall zu gehen und die restlichen Arbeiten zu erledigen. Ein richtiges gemeinsames Abendessen gab es eigentlich nie. Dafür war irgendwie keine Zeit, außerdem hatten sie ja mittags schon warm gegessen. Wenn meine Eltern den Tisch von ihrer Brotzeit abgeräumt hatten, dann war es schon fast wieder Zeit für das Abendessen von Oma und Opa. Da machte sich jeder wieder seine Spezial-Malzkaffee-Mischung mit viel Milch – jeder aus seiner Tasse. Die Milch holten wir immer bei der Tante Jule, der Schwester meines Vaters, die mit ihrer Familie auch in Tittenkofen wohnte und die im Gegensatz zu uns noch Milchvieh im Stall hatte. Meine Eltern hatten auf Rindermast umgestellt, als ich noch ganz klein war, denn zu der Zeit rentierte sich die Milchwirtschaft gerade wieder einmal weniger. Die Landwirte mussten nämlich circa alle zehn bis fünfzehn Jahre auf die Kurzsichtigkeit der Politiker und auf das wankelmütige Brüsseler- EU -Roulette reagieren: Mal war Milchwirtschaft relativ rentabel, aber mit Schweinezucht und Rindermast war nichts zu verdienen. Zehn Jahre später war es genau andersherum. Die Landwirtschaftspolitik in Deutschland war und ist mindestens genauso inkonsequent und wenig vorausschauend wie die Bildungspolitik, und so lässt man das Volk zwischen Lehrerschwemme und Lehrermangel, zwischen Milchseen, Butterbergen und Massentierhaltung plan- und ziellos dahinstrampeln.
Uns Kindern grauste es immer vor der Kuhmilch. In erster Linie wegen der dicken Haut, die sich immer beim Kochen an der Oberfläche bildete und die wie ein gelblich lederner Lappen in dem großen Milchtopf schwamm. Für uns musste die Mama deshalb immer ein paar Tetrapaks ultrahocherhitzte H-Milch kaufen, fettarm, damit sich möglichst wenig Haut an der Oberfläche bildete. Opa und Oma dagegen schöpften die dicke Haut mit Genuss ab, um sie dann unter fast andächtigem Geschlabber und Gezutzel von der Tasse in den Mund zu befördern und mit dicken Scheiben Brot, Kuchen, Hefegebäck, Schmalzgebackenem oder eben auch gern einem dicken Stück Torte
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