Man muss das Kind im Dorf lassen: Meine furchtbar schöne Jugend auf dem Land (German Edition)
Schneewittchens bis zum Boden) von circa ein Meter zwanzig hatte, passte der Name ganz wunderbar zu diesem kleinen, dicken, weißen gutmütigen Knödel mit den warmen Augen. Während Opa Schneewittchen vor das Wägelchen spannte, machten meine Cousine Claudia und ich uns immer »ausgehfein«, was nichts anderes hieß, als dass wir den Kleiderschrank meiner Mutter plünderten. Wobei wir uns selten an ihren aktuellen Sachen vergriffen, sondern meistens die Kleider schnappten, die sie zwar nicht mehr anzog, aber von denen sie sich nicht trennen konnte und die sie deshalb in einem alten Büfett im Bügelzimmer aufhob. Darunter war unter anderem auch ihr bodenlanges spitzendurchwirktes Brautkleid, das wir – ohne mit dem Wimper zu zucken – einfach mit einer Bastelschere unten abschnitten, weil es uns mit seiner Überlänge ja nur bei der anstrengenden Kutschfahrt behindert hätte. Nichts war vor uns sicher: Wir krallten uns Mamas seidene Pumps, ihre Handtäschchen aus Lack, wir behängten uns mit ihrem Modeschmuck und schmierten uns das halbe Gesicht mit Wimperntusche zu, kleckerten ihr Rouge auf die andere Hälfte des Gesichts und sparten auch nicht mit Lippenstift. Wir entführten spitzendurchwirkte Frisierumhänge, Regenschirme, Stofftaschentücher, Nachthemden und besprühten uns mit ihrem teuren Parfüm, das sie extra in einer Schublade ihrer Frisierkommode unter ihrer Unterwäsche versteckt hatte und dessen eleganten Duft ich nie vergessen werde. Leider gibt es diesen Duft in keiner Parfümerie mehr: »J’ai osé« von Guy Laroche. Ihr ganzer Wäscheschrank roch nach diesem herrlichen Wässerchen, das sie hütete wie einen Augapfel. Leider nicht gut genug, denn – wie gesagt – nichts war vor uns sicher. Ich hatte sie so viele Male beobachtet, wenn sie sich für eine Hochzeit oder einen Kegelabend zurechtmachte, ich wusste immer, wo alles war. Trotz der Verwüstungen, die wir in Bügel- und Schlafzimmer anrichteten, wurden wir für unsere Verkleidungsarien nur ganz selten geschimpft, obwohl das Kürzen des Brautkleides natürlich nicht gerade Lobeshymnen bei meiner Mutter auslöste. Aber insgeheim war ich mir damals schon sicher, dass es nicht ihr Traumkleid gewesen sein musste, sonst wäre das Donnerwetter ganz anders ausgefallen.
Wenn wir fertig für die große Reise waren, bestiegen wir zwei aufgemaschelten »Bixl-Madamen« die Kutsche und überlegten uns die Reiseroute. Wollten wir erst zu Stimmers, wo wir bestimmt in unserem Aufzug ein paar Süßigkeiten abstauben würden, denn die Stimmer Liesi war mit uns Kindern immer sehr großzügig, und dann zu Claudias Eltern? Oder sollten wir gleich zu Claudias Eltern fahren? Zum Wirt konnten wir nicht, um uns ein Eis zu holen, denn den Hügel zur Wirtschaft hoch hätte Schneewittchen nicht geschafft. Und außerdem mussten wir der viel befahrenen Hauptstraße fernbleiben.
Egal, was meine Cousine und ich allerdings als Route festgelegt hatten, den Reiseweg bestimmte einzig und allein Schneewittchen, denn weder das Ziehen am Zügel noch Zerren am Halfter oder gar Schimpfen oder gutes Zureden konnten sie dazu bringen weiterzulaufen, wenn sie gerade mit einem saftigen Kräuterbüschel oder irgendeiner anderen Delikatesse beschäftigt war: Sie blieb einfach am Straßenrand stehen und fraß sich fest. Oder sie erinnerte sich an eine Stelle, wo sie das letzte Mal etwas Schmackhaftes gefunden hatte, und bog an dieser Stelle von der Straße ab. Da war nichts zu machen. Oft schlappten wir mit unseren High Heels schimpfend ohne Kutsche zum Häusl zurück, und Schneewittchen kam erst eine halbe Stunde später nach. Das war ja das Gute an ihr: Die treue verfressene Seele kam immer wieder zurück.
Sie war allerdings gar nicht mehr für Ausflüge jeglicher Art zu haben, wenn sie ein Junges hatte. Alle paar Jahre wurde sie »aufgelassen«, und gegen Ende ihrer Trächtigkeit, wenn sie ihre gewaltige Wampe schon fast am Boden entlangschleifte, hatte man immer den Eindruck, sie würde das Junge nicht normal zur Welt bringen, sondern einfach irgendwann explodieren. Meist brauchte sie gar keinen Geburtshelfer, sondern brachte ihr Junges allein zur Welt, und wenn wir morgens noch in Nachthemd und Schlafanzug nach ihr schauen wollten, lief das kleine Wesen schon auf wackeligen Beinchen neben ihr her. Ihre Jungen hatten bei der Geburt immer die Größe von einem mittleren Terrier und waren einfach nur zum Anbeißen süß, wie flauschige Stofftiere mit großen dunklen Augen und einem
Weitere Kostenlose Bücher