Man muss das Kind im Dorf lassen: Meine furchtbar schöne Jugend auf dem Land (German Edition)
niedlichen Stummelschwänzchen, das lustig hin- und herwackelte, wenn sie bei der Mutter tranken.
Immer wenn Schneewittchen ein neues Junges geboren hatte, dann sprach sich das im ganzen Dorf innerhalb von ein paar Stunden herum, und tagelang riss der Besucherstrom von Kindern, Eltern, Jungen und Alten nicht ab, die unser neues Pony sehen wollten, weil es einfach zu nett anzuschauen war, wie dieses kleine, meist bräunliche Minipferdchen neben der stolzen Schneewittchen-Mama herhopste. Jeder Stolperer, jedes Ausschlagen mit den Hinterbeinen, jede Pose wurde mit vielen »Ahhhs« und »Uiiihs« und »Mei, schau, wie liab!« kommentiert. Schneewittchen war trotz der überstandenen Geburtsschmerzen friedfertig und gutmütig wie eh und je und ließ immer jeden ihr Junges streicheln und herzen, ganz die stolze Mama eben.
Aber wir waren nicht nur mit Ponykutsche, sondern auch mit dem Auto unterwegs, denn gegenüber von unserem Häuschen, gleich neben dem Holzschuppen, stand ein weinroter, ausgeschlachteter R4 ohne Räder. Irgendjemand hatte ihn mal bei meinem Vater gelassen und wollte ihn irgendwann zum Verschrotten bringen, schien ihn aber vergessen zu haben. Uns Kindern war das nur recht. Wir liebten dieses Auto mit den zerrissenen grauen Schaumstoffsitzen, der einzigartigen Revolverschaltung und dem seltsamen, abgestandenen Geruch nach dreckigem Gummi und Zigaretten. Letztere fanden wir zwar leider nicht im Auto, aber alte Kaugummis waren noch im Handschuhfach. Sie schienen schon länger dort zu liegen, denn das Papier konnte man kaum noch vom Kaugummi lösen, aber das war uns Kindern egal: Jede Art von Süßigkeit wurde mit Hingabe und Andacht verzehrt. Da die Reifen abmontiert waren – die hatte der Besitzer wahrscheinlich noch für gutes Geld verkaufen können –, lag der Wagen so niedrig im Gras, dass selbst mein kleiner Bruder mit seinen damals drei Jahren aufs Dach klettern konnte. Da saßen oder lagen wir nun zu zweit oder zu dritt auf dem Dach des weinroten R4, aßen Radi- oder mit Zucker bestreute Butterbrote, ließen uns die Sonne auf den Pelz brennen und stellten uns vor, dass wir einen Ausflug gemacht hatten – irgendwo ans Meer, das keines von uns Kindern jemals gesehen hatte. Manchmal rührte uns die Mama aus drei Eiern einen Biskuitteig an, den wir dann genussvoll mit Suppenlöffeln aus ihrer silbernen Teigschüssel löffelten. Meistens vergaßen wir aber – trotz diverser Ermahnungen –, die klebrige Teigschüssel mit Löffeln wieder in die Küche zurückzubringen, und meine Mutter zerrte einen Tag später die Schüssel, die inzwischen Besuch von Ameisen, Fliegen und Bienen gehabt hatte, aus unserer Häuslküche, wobei sie immer den gleichen Satz durch die Zähne zischte: »Des war as letzte Mal, dass ihr mir die Schüssel verzogn habts, ihr Dreckbären!«
Aber weil meine Mutter nicht immer im Haus, sondern oft bei der Feld- oder Stallarbeit war und meine Oma grundsätzlich nach dem Mittagessen rasten musste, gab es immer ein schönes Zeitfenster, in dem wir Kinder ungestört in Speisekammer und Küche nach etwas stöbern konnten, das picknicktauglich war. Also beluden wir unsere dickbodigen Teller mit dem Reichsadler auf der Unterseite mit schief abgeschnittenen Stücken Marmorkuchen, der mit einer dicken Schicht Schokoladenglasur überzogen war, schaufelten uns Riesenecken Streuselkuchen oder Rosinenschnecken auf die Teller. Manchmal gab es knusprige Schuxn oder dick mit Puderzucker bestäubte Auszog’ne. Am Wochenende gab es meist – neben diversen Kuchen – einen großen Hefezopf, der entweder »nackert«, also nur mit Rosinen versetzt, oder mit einer Mischung aus Nüssen und Schokolade gefüllt war. In einem Bauernhaus, in dem sieben Personen lebten, durften zwei Dinge nie ausgehen: saubere Unterwäsche und genügend Essbares.
Darüber hinaus zauberten wir in unserer kleinen Häuslküche allerhand kreative Menüs, die wir genüsslich entweder im »Esszimmer« oder auf dem R4-Dach verzehrten: Es gab grüne, unreife Äpfel oder Birnen, die wir ganz klein schnitten und in unserer Pfanne mit Ketchup würzten, gefolgt von einer Variation von Gänseblümchen, die mit Stücken eines Schokoladenosterhasen verziert waren. Den Schokohasen hatte ich im Zimmer meines Bruders gefunden (ich wäre nie auf die Idee gekommen, so etwas Gutes länger als zwei Tage aufzuheben, und habe meinen immer spätestens am Ostermontag gefressen), und die Oberfläche des Hasen, die normalerweise immer herrlich
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