Man tut, was man kann (German Edition)
rund vierzigjährigen Laufbahn schon sehr viel erlebt hat, so ist es für sie offenbar doch neu, dass ihr Vorgesetzter Besuchern die Bärte aus dem Gesicht reißt.
«Ich komme später nochmal wieder», sagt sie knapp und macht auf dem Absatz kehrt. Dabei klappert die Tasse Tee, die sie mir bringen wollte, als würde Frau Hoffmann ein wenig zittern.
Glücklicherweise ist das Missverständnis rasch aufgeklärt. Günther bekommt eine 1999 abgelaufene Brandsalbe aus unserem Erste-Hilfe-Kasten, außerdem ordne ich zielsicher an, dass die Inhalte sämtlicher im Unternehmen befindlicher Erste-Hilfe-Kästen auf ihr Verfallsdatum hin überprüft werden. Wir möchten ja schließlich keine Scherereien mit den Korinthenkackern von der Berufsgenossenschaft bekommen. Letzteres sage ich übrigens nicht, sondern wähle die Formulierung «Damen und Herren von der Berufsgenossenschaft».
Als es mir am Nachmittag gelingt, Frau Hoffmann mit Blumen und einer feierlichen Ansprache wieder gnädig zu stimmen, scheint der Tag sich doch noch zum Guten zu wenden. Ich habe das Gefühl, sie ist ein wenig gerührt, und ich bedauere in diesem Moment, dass sie in ein paar Monaten in Rente gehen wird. Sekretärinnen, die ein berufliches Ethos haben, das dem Ehrenkodex der Mafia ähnlich ist, sind ja kaum noch zu finden.
Sollte mein Hund wieder auf dem Damm sein und sich zu einem Abendspaziergang überreden lassen, könnte der Tag entspannt enden.
SIE SEHEN MÜDE AUS
Es ist eine ungewöhnliche Erfahrung, von einem Menschen chauffiert zu werden, der permanent aus den Seitenfenstern schaut, aber selten auf die Straße. Bronko hat explizit darum gebeten, dass ich mich nach hinten setze, damit er vorne ungehindert seinen Blick schweifen lassen kann. Das tut er nun ausgiebig, von hinten erinnern seine Kopfbewegungen ein wenig an ein Konzert von Stevie Wonder.
Unter anderen Umständen würde ich wohl um mein Leben fürchten, aber Bronko ist ein äußerst defensiver Fahrer, die Tachonadel klebt bei dreißig Stundenkilometern, schlimmstensfalls würde ich mir bei einem Unfall wohl ein wenig das Hemd verknittern. Die zulässige Höchstgeschwindigkeit liegt aktuell bei siebzig, aber ich habe mich bereits damit abgefunden, dass Bronko immer dreißig fährt, egal, wie die erlaubte Höchstgeschwindigkeit ist. Wahrscheinlich macht er das sogar auf der Autobahn, was ich aber nicht ausprobieren möchte, weil ich mir dann Urlaub nehmen müsste. Inzwischen ignoriere ich sowohl die wütenden Gesichter anderer Verkehrsteilnehmer als auch deren ständiges Hupen. Bronko scheint beides nicht wahrzunehmen, weil er so in seine Aufgabe vertieft ist.
Es dämmert bereits, als wir am Tierheim ankommen, quer durch den Park kann ich die oberen Etagen des Verlagsgebäudes sehen, zu Fuß ist es etwa fünfzehn Minuten entfernt, mit dem Auto braucht man nach aktuellen Erkenntnissen knapp eine Stunde.
Ich muss definitiv mit Bronko über seinen Fahrstil reden, allerdings ein anderes Mal, denn wenn ich mich jetzt nicht ein bisschen beeile, dann muss ich meinen Hund aus dem Tiefschlaf holen.
Fred liegt in seiner Hütte und macht keine Anstalten herauszukommen. Erst als ich ihn rufe, schaut er durch die kleine Öffnung seines Holzverschlages. Fred wirkt elend, erhebt sich aber dennoch mühsam und schleppt sich in Richtung Gitter. Auf halbem Weg verlassen ihn die Kräfte, er legt sich auf eine herumliegende Decke. Ich öffne die Zwingertür, gehe hinein, tätschle ihm den Kopf. Ich weiß, dass er zu müde ist, um nach mir zu schnappen. Er legt den Kopf zwischen seine Vorderbeine und lässt es geschehen, offenbar tut es ihm gut.
Um diese Zeit erinnert das Tierheim an eine Art Flüchtlingslager. Irgendwo auf dem Gelände steht ein Mast mit zwei Strahlern, die die Umgebung in fahles Licht tauchen. Es ist fast still. Hier und da hört man noch Knurren oder Bellen, aber langsam senkt sich die Nacht auf das Gelände.
Ich habe immer noch meine Hand auf Freds Kopf, er atmet ruhig. Ich beschließe, eine Weile zu bleiben. Weil mir aber langsam die Knie schmerzen, sehe mich nach einer passenden Sitzgelegenheit um. Als ich meine Hand von Freds Kopf nehme, blickt der kurz hoch, als wolle er mir bedeuten, noch nicht zu gehen.
«Bin gleich wieder da», sage ich leise, obwohl mir klar ist, dass er kein Wort versteht.
Wenig später habe ich mir eine Kiste besorgt, hocke darauf, gegen das Zwingergitter gelehnt, meine Hand ruht auf Freds Kopf. Ich merke schon kurz nach dem Setzen, dass mich
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