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Manche Maedchen muessen sterben

Manche Maedchen muessen sterben

Titel: Manche Maedchen muessen sterben
Autoren: Jessica Warman
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kannten, kannten sie mich als Läuferin. Dieser Tatsache entsinne ich mich so deutlich, wie ich mich an meinen eigenen Namen oder an das Gesicht meiner Mutter erinnere. Ich war im Cross-Country-Team. Zwar war ich nicht übermäßig schnell – normalerweise brauchte ich für eine Meile acht Minuten –, aber ich konnte stundenlang laufen. Und das tat ich auch; sogar während der Schulzeit rollte ich mich jeden Morgen vor Sonnenaufgang aus dem Bett, zog meine Laufschuhe an und joggte den Sund rauf und runter, an der Straße nach Mystic entlang. Das ist die größte Gemeinde, die an Noank grenzt, und manchmal lief ich bis in die Außenbezirke der Stadt, bevor ich umdrehte, um mich auf den Heimweg zu machen. Es war für mich nichts Ungewöhnliches, zehn Meilen am Tag zu laufen. Es ist ein solcher Trost, dass mir diese Erinnerungen geblieben sind, zu wissen, dass sie tief in meinem Wesen verwurzelt sind. Ich kann jederzeit die Augen schließen und beinahe den Rhythmus meiner Schritte auf der Straße hören.
    Ist schon komisch – meine Eltern haben sich immer Sorgen um mich gemacht, wenn ich morgens allein laufen war. Überall Wasser, rings um uns herum, und sie haben sich stets um meine Sicherheit auf trockenem Boden gesorgt.
    Zum gegenwärtigen Zeitpunkt scheint das, was alle über die Ereignisse jener Nacht berichtet haben, zu der Schlussfolgerung zu führen, dass ich ertrunken bin. Die Geschichte lautet wie folgt: Ich war betrunken, hatte niedrigen Blutzucker und ging nach draußen, um etwas frische Luft zu schnappen. Ich stolperte und fiel vom Pier. Niemand hat irgendetwas gesehen. Niemand hat irgendetwas gehört.
    Und die Menschen scheinen mit dieser Version der Wahrheit zufrieden zu sein. Meine Eltern scheinen sie zu akzeptieren; meine Freunde scheinen sie zu glauben. Das ist die offizielle Geschichte. Fall abgeschlossen.
    Doch inoffiziell steht Joe Wright gerade mit Anzug und Krawatte an der Rückwand des Beerdigungsinstituts und verfolgt mit ruhigen Augen, wie die Menge den Raum betritt.
    Mich mit Alex von A nach B zu bewegen, ist ganz einfach; alles, was ich tun muss, ist, die Augen zu schließen, während ich irgendeine Art körperlichen Kontakt zwischen uns herstelle, und dann kann er mich überallhin begleiten. Obgleich wir einander nicht mögen, ist mir bewusst, dass wir beide dankbar dafür sind, Gesellschaft zu haben. Wir sind – abgesehen von den Erinnerungen, die ich auf eigene Faust besuche, wenn ich beschließe, ihn zurückzulassen — seit meinem Todestag praktisch unzertrennlich, von einer unsichtbaren Macht aneinandergefesselt, für die ich nicht einmal einen Namen habe.
    Wir sind auf meiner Beerdigung. Es ist dasselbe Bestattungsinstitut, in dem die Trauerfeier für meine Mom abgehalten wurde, als ich neun Jahre alt war.
    »Sie ist nicht hier«, murmle ich; mir treten Tränen in die Augen.
    »Wer ist nicht hier?«, fragt Alex.
    Obwohl ich weiß, dass uns niemand sehen kann, fühle ich mich hier mit Alex seltsam fehl am Platz; im Gegensatz zu den ganzen Trauernden in Schwarz sind wir beide so leger gekleidet. Ich blicke auf meine Stiefel hinab. Die Schmucksteine glänzen im Schein der Lüster, die im Bestattungsinstitut hängen. Sie schmerzen grässlich an den Füßen; ich wünschte wirklich, in ein Paar Turnschuhe schlüpfen und frei mit den Zehen wackeln zu können, doch ich bin in diesen Stiefeln gestorben, und es scheint, als müsste ich sie einfach tragen. Es ist sonderbar; abgesehen von meinen Füßen kann ich keinen Schmerz spüren. Ich verstehe nicht, warum.
    »Meine Mutter«, sage ich.
    »Hmm.« Alex’ Blick schweift durch den Raum. »Aber sonst sind alle da, das ist mal sicher.«
    Das stimmt. Ich habe ihn nicht grundlos mehr als einmal daran erinnert, dass ich sehr beliebt war; es sieht so aus, als wäre praktisch die gesamte Schule gekommen, um mich zu betrauern. Doch meine engsten Freunde haben die besten Plätze. Mera, Caroline und Topher sitzen in der zweiten Reihe, hinter meinen nächsten Verwandten. Die anderen beiden – Richie und Josie – sitzen bei meinem Dad und Nicole. Auch Richies Eltern sind da, ein paar Reihen hinter meinen Freunden; sie sitzen mit den Eltern von Caroline und Topher zusammen. Noch habe ich Meras Mom und Dad nicht entdeckt, aber ich bin mir sicher, dass sie auch hier irgendwo sind.
    Der Tod ist verzwickt. Ich habe festgestellt, dass sich meine persönliche Erfahrung auf vielfältigste Art und Weise von Alex’ unterscheidet. Zum Beispiel habe ich immer
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