Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Manche Maedchen muessen sterben

Manche Maedchen muessen sterben

Titel: Manche Maedchen muessen sterben
Autoren: Jessica Warman
Vom Netzwerk:
noch Seemannsbeine. Wo immer ich hingehe, selbst an Land, plagt mich ein hartnäckiges, schaukelndes Gefühl. Und ich friere die ganze Zeit, verfroren bis auf die Knochen. Es fühlt sich an, als würde ich in kaltem Wasser untergetaucht werden. Alex hat mir erklärt, dass ihm ebenfalls die meiste Zeit über kalt ist, aber mehr so, als stünde er allein im Wind, auf freier Fläche. Wenn man näher darüber nachdenkt, ergibt das einen Sinn; Tod im Meer, Tod an Land. Was jetzt kommt, ergibt sich irgendwie von selbst: Manchmal, wenn ich mich auf den Geschmack in meinem Mund konzentriere, fühlt es sich beinahe an, als würde ich Salzwasser schlucken.
    Und die Sache ist noch auf andere Weise verzwickt. Am ersten Tag nach meinem Tod musste ich mich wirklich konzentrieren, um in eine Erinnerung eintauchen zu können. Und wenn ich mir eine ansah, fühlte ich mich stark von meinem Bewusstsein in der Gegenwart losgelöst. Doch das, was anfangs intensive Rückblicke auf mein altes Leben waren, kommt jetzt häufiger vor, um sich beinahe wie Erinnerungen vor mir zu entfalten; die Vergangenheit und die Gegenwart beginnen zu verschmelzen – nur dass ich die Erfahrungen, auf denen diese Erinnerungen beruhen, diesmal nicht selbst mache; ich bin bloß eine Zuschauerin.
    So wie auf der Beerdigung meiner Mutter. Ganz plötzlich, innerhalb eines Lidschlags, mit dem ich nicht rechne, sehe ich mein neun Jahre altes Ich in der hintersten Reihe des Bestattungsinstituts sitzen, von wo aus ich zusehe, wie mein Vater vor einem geschlossenen Eichensarg steht. Ich weiß, dass meine Mutter in dem Sarg liegt.
    Mein Haar ist lang und schimmert; zwischen all den Trauernden mit ihren grimmigen Gesichtern sehe ich seltsam hübsch und sanftmütig aus. Eine fast greifbare Trauer durchtränkt den Raum. Ich halte den Kopf gesenkt und starre auf meine Füße. Mit neun Jahren trage ich kleine, schwarze, offene Lederstöckelschuhe. Mit neun . Jetzt, mit achtzehn, kommt mir diese Wahl des Schuhwerks – hat mich mein Vater diese Schuhe anziehen lassen? Hat er sie mir gekauft? – peinlich unangemessen vor. Wer lässt eine Neunjährige schon Absätze tragen?
    Josies Mutter, Nicole, tritt hinter mich und legt ihre Hände auf meine Schultern. Sie beugt sich vor, um mir ins Ohr zu flüstern. »Elizabeth, Schätzchen. Wie geht es dir?«
    Ich zucke zusammen, als sie mich berührt. Ich schaue auf und lasse den Blick verwirrt durch den dicht bevölkerten Raum schweifen. Mein Gesicht ist gerötet und tränenüberströmt. Ich sehe aus, als hätte ich keine Ahnung, was los ist, wie ein verlorenes kleines Mädchen, das bloß seine Mami zurückhaben will. Während ich mich selbst beobachte, verspüre ich einen plötzlichen Stich der Traurigkeit, ein Gefühl des Kummers, das sehr tief sitzt, und plötzlich wird mir klar, dass es nie verschwunden ist, dass es die ganze Zeit über irgendwo in mir verborgen war.
    Damals kannte ich Nicole noch als Mrs. Caruso, Josies Mom. Und obwohl es ein Kampf ist, mich an bestimmte Ereignisse aus meiner Kindheit zu erinnern, die in meinem Gedächtnis insgesamt irgendwie verschwommen und unklar ist, erinnere ich mich doch zumindest an das Grundlegende: Mit neun Jahren waren Josie und ich schon seit Jahren beste Freundinnen. Bevor meine Mutter starb, pflegten unsere Eltern viel Zeit zusammen zu verbringen. Dann ging Josies Dad fort. Was sich danach zwischen meinem Dad und Nicole entwickelte, kam einem beinahe natürlich vor. Jahre zuvor, auf der Highschool, waren die beiden miteinander liiert gewesen. Nach dem Tod meiner Mutter und nachdem Nicole und ihr erster Ehemann geschieden worden waren, schien sich Nicole nahtlos als Mutterfigur in mein Leben einzufügen, ohne dass ich je viel darüber nachgedacht hätte; so waren die Dinge einfach. Mein Vater brauchte eine neue Frau, und Nicole brauchte einen neuen Mann. Ich hatte nie das Gefühl, dass sie meine Mutter zu ersetzen versucht. Und ich habe die Gerüchte nie geglaubt, die in der Schule und in der Stadt die Runde machten, darüber, dass mein Dad und Nicole schon eine Affäre hatten, bevor meine Mutter starb.
    Andere Leute hingegen glaubten sie sehr wohl. Leute, die mir nahestanden, glaubten sie. Josie glaubte sie. Das war ein Thema, das sie und ich nicht großartig anzuschneiden versuchten, und ich habe nie gewagt, die Sache meinem Dad gegenüber zur Sprache zu bringen. Jetzt wird mir bewusst, es lag nicht daran, dass ich mir immer sicher war, das Gerücht würde jeder Grundlage entbehren;
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher