Manche Maedchen muessen sterben
Selbst allein und folge ihr. Als ich ein Kind war, hatte ich nie die Chance, so viel zu beobachten; jetzt habe ich das Gefühl, dass es wichtig ist, ganz genau aufzupassen. Ich bin mir nicht sicher, warum. Aber ich bin hier, oder nicht? Es muss einen Grund für diese Erinnerung geben. Es ist, wie Alex sagte: Ich versuche, ein Puzzle zusammenzufügen. Doch ich habe keine Ahnung, wie das Bild aussehen wird, wenn es fertig ist, und das macht es schwierig. Ich weiß nicht recht, wo ich anfangen oder auf welches Puzzleteil ich gegenwärtig besonders achten soll.
»Marshall«, sagt Nicole und legt ihre Arme um ihn. Ihren Mund dicht an sein Ohr gedrängt, murmelt sie: »Sie wird nie wieder hungrig sein.«
Und damit bin ich wieder bei meiner eigenen Beerdigung und schaue zu, wie Mera und Topher Hand in Hand nach vorn gehen, um meinen geschlossenen Sarg anzustarren. Beide weinen. Mit achtzehneinhalb ist Mera die Älteste von uns – sie hat immer behauptet, sie sei wegen »Verhaltensproblemen« erst ein Jahr später in die Vorschule gekommen, doch alle wissen, dass sie einfach nicht rechtzeitig trocken war, um in den Kindergarten zu gehen. Wie auch immer, zu ihrem achtzehnten Geburtstag haben ihre Eltern ihr Brustimplantate geschenkt. Selbst, wenn ich mich nicht an diese Tatsache erinnern würde, ist dieser Umstand mit bloßem Auge erkennbar. Auf meiner Beerdigung trägt sie einen tief ausgeschnittenen schwarzen Pulli und einen Push-up-BH, der die Zwillinge so richtig zur Geltung bringt.
Als sie und Topher sich umdrehen, bemerkt Mera, dass Joe Wright hinten im Raum steht. Sie stößt Topher an und flüstert ihm leise etwas zu.
Für alle anderen könnte das verdächtig wirken. Doch Mera hatte keinen Grund, mir zu schaden. Mera ist der Inbegriff ihrer Brustimplantate: sympathisch, freundlich und – zumindest der Arzneimittelzulassungsbehörde zufolge – harmlos. Und wo wir schon mal dabei sind, ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Topher imstande wäre, jemanden umzubringen. Er kann zwar launisch sein, aber eigentlich ist er ein ziemlich ruhiger Bursche. Er geht in die Oberstufe der Highschool und hat trotzdem noch einen Hasen als Haustier, der mit ihm in seinem Zimmer lebt und aufs Katzenklo geht und nachts neben seinem Bett schläft. Solche Menschen ermorden ihre Freundinnen nicht.
»Schlampen und Arschlöcher«, sagt Alex, der seine Beine vor sich ausstreckt und in einer lässigen Pose die Arme hinter seinem Kopf verschränkt. »Ehrlich, Liz, wie konntest du nur mit diesen Leuten befreundet sein?« Dann schlägt er sich gegen die Stirn, als wäre das eine dämliche Frage. »Was rede ich da?«, sagt er. »Du warst ja ihre Anführerin. Eigentlich warst du sogar die Schlimmste von allen.«
»Das ist nicht fair«, sage ich empört. »Einige von uns sind zu deiner Beerdigung gegangen, weißt du. Eine Menge Leute sind hingegangen.«
»Wirklich?« Er klingt kühl. »Ich nehme an, du warst da.« Doch er scheint nicht gewillt zu sein, mir dafür irgendwelche Anerkennung zu zollen.
Noch immer sind in der ganzen Stadt Handzettel verstreut, an Telefonmasten geheftet. Alex’ Eltern bieten jedem eine Belohnung in Höhe von zehntausend Dollar an, der Informationen darüber besitzt, was in der Nacht geschah, in der er starb.
»Ich habe sogar extra meine Laufstrecke geändert«, erkläre ich ihm. Ich bin überrascht, wie diese Erinnerung an etwas, das knapp ein Jahr her ist, plötzlich scheinbar aus dem Nichts wieder auftaucht.
Und während ich spreche, ziehe ich meinen linken Stiefel aus – ich trage keine Socken –, um meinen Fuß anzusehen. Mein großer Zehennagel ist fast vollständig verschwunden. Das Schweinchen, das zum Markt ging. Das Schweinchen, das zu Hause blieb, sieht auch nicht besonders gut aus. Doch das liegt nicht daran, dass ich ertrunken bin, sondern an der ganzen Lauferei. Der Rest von mir mag schön gewesen sein, aber meine Füße waren schon immer absolut hässlich. Seltsamerweise hat mir das allerdings nie viel ausgemacht.
Okay, ein bisschen hat es mich schon gestört. Meine Freundinnen – Mera und Caroline und Josie – gingen immer mit Begeisterung zur Mani-Pediküre, doch ich entschied mich normalerweise für eine einfache Maniküre. Der Zustand meiner Füße war mir zu peinlich, um sie irgendjemandem zu zeigen. Deshalb vermutlich auch das protzige Schuhwerk; ich schätze, man kann sagen, dass ich dieses Manko damit überkompensiert habe.
Ich lächle, während ich meinen linken Fuß betrachte.
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