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Manche Maedchen muessen sterben

Manche Maedchen muessen sterben

Titel: Manche Maedchen muessen sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Warman
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hat?«
    »Ja, da bin ich mir sicher.« Ich sehe mich in dem Zimmer um und bin schier überwältigt von Kummer. In diesem Zimmer gab er mir meinen ersten richtigen Kuss; in diesem Raum saßen wir so häufig stundenlang auf seinem Bett und unterhielten uns, manchmal bis tief in die Nacht hinein. Der Raum ist groß und warm und voller Licht. Er liegt auf der hinteren rechten Seite des Hauses und verläuft über die gesamte Länge des Gebäudes, so dass es drei Fenster gibt: eins nach vorn, das auf die Straße hinausgeht; eins an der Seite, das zum Nachbarhaus zeigt; und eins an der Rückseite, von wo aus Richie einen großartigen Blick auf den Long-Island-Sund und auf die Elizabeth hat. »Warum fragst du mich so was?«
    »Weil«, sagt er schlicht, »es so aussieht, als hätte er sich ziemlich rasch umorientiert.«
    »Was meinst du damit?«
    »Ich meine, sie wirken sehr vertraut miteinander. Findest du nicht?«
    Bevor ich mit Alex streiten kann, bemerke ich, dass Richie seine Zimmertür geschlossen hat. Josie steht dicht hinter ihm, neben seinem Bett. Sie hat ihre Hände auf seine Schultern gelegt und zieht ihn näher zu sich.
    Er dreht sich um. Er sieht sie einen Moment lang an. Und dann küsst er sie.
    Ich wusste nicht, dass man sich als Geist fühlen kann, als hätte man einen Schlag in den Bauch gekriegt. Doch als ich gleich hinter Richies Türschwelle stehe und die beiden zusammen sehe, beschleicht mich tatsächlich ein Gefühl von Übelkeit.
    Richies Zimmer ist praktisch ein uns beiden gewidmeter Schrein. Auf seinem Schreibtisch, vor dem hinteren Fenster, das den Sund überblickt, thronen mehrere gerahmte Fotos von uns in unterschiedlichem Alter. Auf einem stehen er und ich an unserem ersten Kindergartentag zusammen an der Bushaltestelle. Wir halten Händchen; beide tragen wir Rucksäcke, die aussehen wie ausgestopfte Tiere. Richies wie ein Löwe; meiner wie ein Einhorn. Unsere Finger sind ineinander verschränkt.
    Auf einem anderen Bild sitzen wir nach einem Cross-Country-Rennen auf der Tribüne. Richie ist kein Läufer, doch er war immer da, um mich zu unterstützen. Auf dem Foto trage ich meine Laufsachen; mein langes Haar fällt mir in zwei Zöpfen über die Schultern. Mein Gesicht ist rot und verschwitzt, offensichtlich erschöpft, aber ich lächle. Genau wie Richie. Er hat seinen Arm lässig um meine gebräunten Schultern gelegt. Ich glaube, es war Josie, die das Bild aufgenommen hat.
    Das letzte und größte Foto in einem schimmernden silbernen Rahmen zeigt uns beide letztes Jahr beim Klassentreffen der Highschool. Wir sehen so glücklich aus. Wir liebten einander. Wie bei vielen anderen Ereignissen erinnere ich mich auch an keine Einzelheiten dieses Abends. Doch ich könnte wetten, dass es einer der schönsten Abende meines Lebens war.
    Und jetzt das hier – mein Freund küsst meine Stiefschwester. Sie haben ihre Arme eng umeinandergeschlungen. Richie weint ein wenig. Ihn noch immer küssend, streckt Josie die Hand nach seinem Gesicht aus und wischt eine Träne fort. Ihre Hand verweilt auf seiner klammen Wange. Josies Fingernägel sind in einem glitzernden Dunkelviolett lackiert, das, wie ich zufällig weiß, genau zu ihren Zehen passt. Ich war zusammen mit ihr da, vor einer Woche, als meine Freundinnen und ich uns die Nägel machen ließen. Meine eigenen Fingernägel haben genau dieselbe Farbe, meine Fußnägel natürlich nicht.
    Wir haben ihn gezielt zusammen ausgesucht. Den Nagellack, meine ich. In solchen Dingen haben wir uns immer abgesprochen. Wir liebten es, Schwestern zu sein.
    »Das kann nicht wahr sein«, flüstere ich und wische meine Tränen ab. Ich will nicht mit ansehen, was geschieht, doch es scheint unmöglich, irgendwo anders hinzuschauen. Der Kuss dauert eine gefühlte Ewigkeit. Seinen Mund auf Josies gedrückt, beginnt Richie, sie rückwärts zu seinem Bett zu dirigieren.
    »Ich glaube, ich muss mich übergeben«, sage ich. Endlich gelingt es mir, mich abzuwenden; ich lege meine Arme um Alex und vergrabe mein Gesicht an seiner Brust.
    Meine Berührung lässt ihn zurückschrecken. »Nein, musst du nicht. Du bist ein Geist. Du kannst nicht kotzen.«
    »Da bin ich mir nicht so sicher.«
    Ich kneife meine Augen fest zu. Einen Moment lang ist da Dunkelheit. Dann verändert sich etwas.
    Ich bin in der Vergangenheit und stehe in einer Ecke von Richies Zimmer. Er liegt auf dem Bett, oben auf der Decke und trägt nichts weiter als ein Paar schwarze Boxershorts. Er ist blass; das verschwitzte Haar

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