Manche Maedchen muessen sterben
Zimmer aufzuhalten.
»Wo möchtest du denn hin?«
»Ist mir egal. Irgendwohin. Nur raus hier.«
10
Als ich noch lebte, war es einfach, der Realität zu entfliehen: Ich zog einfach meine Schuhe an und ging laufen. Jetzt jedoch scheint es, als könne ich nirgendwo hingehen, wo es mir nicht das Herz zerreißt. Ich friere; das Gefühl klammer Feuchtigkeit, das an meinen Knochen haftet, lässt mich beinahe zittern. Meine Füße schmerzen. Ich bin müde. Trotz Alex’ fortwährender Gesellschaft ist der Tod unglaublich und unermesslich einsam.
Als wir mein Elternhaus verlassen, kommen wir an meinem Vater vorbei, der allein im Wohnzimmer sitzt. Er trägt seine Arbeitskleidung, doch er sieht nicht aus, als habe er es eilig, irgendwo hinzugehen. Er sitzt auf dem Sofa und starrt auf den an der Wand montierten Fernseher. Das Gerät ist aus, der Bildschirm schwarz, doch das scheint meinem Dad nicht bewusst zu sein. Er hält einen Schwenker in der Hand, in dem sich offenbar Scotch befindet, und umklammert ihn so fest, dass seine Fingerknöchel schon ganz weiß sind.
In meiner Erinnerung ist mein Dad ein fröhlicher Mensch. Jetzt wirkt er wie leer. Ungeachtet seines Anzugs gibt seine Erscheinung einige nur allzu offensichtliche Hinweise darauf, dass irgendetwas nicht stimmt. Als ich ihn betrachte, erkenne ich, dass er sich in den letzten Tagen nicht rasiert hat. Seine Uhr, ohne die ich ihn noch nie gesehen habe, soweit ich mich erinnern kann, liegt nicht um sein Handgelenk. Und er trägt keine Socken, bloß ein Paar glänzender schwarzer Slipper an seinen kräftigen, bloßen Füßen. Es ist, als hätte er sich völlig mechanisch für die Arbeit fertig gemacht, fürs Leben, ohne wirklich die Absicht zu haben, außer Haus zu gehen.
Er schaut vom Fernseher zu seinem Glas. Er schüttelt es ein wenig und sieht zu, wie sich die Eiswürfel mit leisen, klackenden Geräuschen neu anordnen. Dann legt er den Kopf schief und lauscht.
Alex und ich schweigen, während wir ihn beobachten. Von oben vernehme ich fröhliches Geplapper; die Stimme meiner Stiefschwester trällert den Flur entlang, während sie am Telefon mit jemandem spricht. Ich höre ihr Lachen.
Mein Dad hört es ebenfalls. Er schließt die Augen und sackt auf dem Sofa ein bisschen in sich zusammen.
Er nimmt einen Schluck von seinem Drink und kaut auf einem Eiswürfel herum. Dann steht er langsam auf und geht in Richtung Küche. Alex und ich folgen ihm. Mein Dad stellt sein Glas in die Spüle. Er geht zum Schrank und nimmt eine ganze Flasche Scotch heraus. Die klemmt er sich unter den Arm und hält auf die Hintertür zu, die in unseren Garten hinausführt.
»Was glaubst du, wo er hinwill?«, flüstert Alex.
»Ich weiß es nicht.«
»Wir könnten ihm folgen.«
Vom Küchenfenster aus beobachte ich, wie er sich seinen Weg durch den hinteren Garten bahnt; er steuert auf den Pier zu. Falls irgendeiner unserer Nachbarn ihn so sieht, werden sie denken, er sei vollkommen durch den Wind. Vielleicht ist er das ja auch.
»Das möchte ich nicht«, erkläre ich Alex.
»Warum nicht?«
Ich sehe ihn an. Die Frage kommt mir lächerlich vor. »Weil es zu sehr wehtut. Darum nicht.«
Anstatt meinem Dad zu folgen, gehen wir in die entgegengesetzte Richtung, zur Vordertür hinaus. Als wir auf der Straße vor meinem Elternhaus stehen, blicke ich die Straße hinunter und male mir aus, was für ein Gefühl es wäre, jetzt einfach loslaufen zu können. Um von Alex wegzukommen, von der schmerzhaften Szene mit Josie und meinen Freundinnen, die meine alten Sachen durchstöbern, vom Anblick meines kaum zurechnungsfähigen Vaters, vom Tod. Obwohl ich weiß, dass ich vermutlich nie wieder laufen gehen kann, kann ich nicht anders als mir vorzustellen, wie gut ich mich dadurch fühlen würde, wie frei. Während ich darüber nachdenke, schlendere ich auf das Ende des Blocks zu – gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie mein Freund auf seine vordere Veranda hinaustritt. Sofort eile ich ihm entgegen. Ich habe das Gefühl, bei ihm sein zu müssen, ihm nahe sein zu müssen.
Richie sieht erstaunlich aus. Ich glaube, in der ganzen Zeit, die ich ihn kenne, habe ich ihn noch nie außerhalb der Schule in Trainingskleidung gesehen. Doch hier ist er: Er steht in einem T-Shirt, eigentlich einem weißem Unterhemd, und Laufhosen da und bindet die Schnürsenkel seiner Turnschuhe zu. Obwohl sie technisch gesehen veraltet sind, denn ich habe sie ihm vor über einem Jahr geschenkt, wurden sie bislang noch nicht viel
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