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Manche Maedchen muessen sterben

Manche Maedchen muessen sterben

Titel: Manche Maedchen muessen sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Warman
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sagte, sind Mr. und Mrs. Wilson beide erfolgreiche Künstler. Sie sind kreative, nachdenkliche Menschen, aber irgendwie sind sie grässlich, wenn es um Kindererziehung geht. Einmal habe ich jemanden sagen hören, dass es zwei Arten von Eltern gibt: die, die alles für ihr Kind tun, und die, die jemanden dafür bezahlen, alles für ihr Kind zu tun. Richies Eltern gehören zur letzteren Kategorie. Es ist nicht so, dass ihr Sohn ihnen egal wäre; es ist bloß, dass sie ›wirklich sehr beschäftigt sind, Liebes‹.
    »Richard? Könntest du mal einen Augenblick herkommen?« Mrs. Wilson erwidert Josies Winken nicht. Sie lächelt nicht einmal.
    »Was hat sie?«, fragt Alex. »Mag sie Josie nicht oder so was?«
    Ich nicke. »Sie mag keinen von uns. Nicht Josie, nicht meine Eltern …«
    »Was ist mit dir?«
    Ich schrecke zusammen. Als ich wieder zu meinem Elternhaus hinüberschaue, sind Richie und Josie fort, ersetzt durch eine andere Erinnerung. Ein Umzugswagen parkt in der Einfahrt. Die Vordertür des Hauses wird von einem Ziegelstein aufgehalten. Drinnen kreischen zwei junge Stimmen einander an; Schritte poltern die Treppe hinunter.
    »Mädchen! Beruhigt euch!« Mein Vater taucht hinten auf der Ladefläche des Lasters auf; er trägt einen Stapel Kisten.
    Nicole kommt zur Vordertür heraus. Sie trägt ein sehr enges T-Shirt und Jeans; ihr langes Haar ist mit einem rosa Tuch zurückgebunden. Sie ist jung, in den Dreißigern. Ihre Wangen sind gerötet vor Anstrengung und Aufregung und Neuvermählten-Glückseligkeit. Und, Junge, ist sie schön.
    »Lass sie spielen, Marshall«, sagt sie zu meinem Dad. Sie küsst ihn auf die Wange. »Sie sind so aufgeregt.« Als sie eine lose Haarsträhne hinter ihr Ohr streicht, legt sie dabei einen winzigen Traumfänger frei, den sie als Ohrring trägt; unglaublich kleine Federn baumeln von dem kreisrunden Flechtwerk.
    Josie und ich stürmen hinter ihr ins Freie; unsere Gesichter sind verschwitzt, wir kichern beide. Ich krache beinahe gegen meinen Vater, der die Kisten den Weg hochträgt.
    »Aufgepasst!« Er springt beiseite. Seufzend stellt er die Kisten auf den Boden und drückt eine Hand in seinen Rücken. Er ist erst Mitte dreißig, doch mein Dad ist bereits übergewichtig und außer Form. Auf seiner faltigen Stirn schimmern Schweißperlen. Er ist außer Atem. In vier Jahren wird er einen leichten Herzinfarkt erleiden, beim Mittagessen und Drinks mit einem Klienten. Sein Arzt wird ihm den Rat geben, zehn Kilo abzunehmen und kein rotes Fleisch mehr zu essen; daraufhin wird er unverzüglich fünf Kilo zunehmen und sich weigern, seine Leidenschaft für Steaks aufzugeben.
    Er wirft den Kisten einen mürrischen Blick zu. »Wir hätten Möbelpacker anheuern sollen.«
    »Ach, komm, entspann dich. Du bist doch ein großer, kräftiger Bursche. So viel Zeug ist es ja gar nicht«, sagt Nicole und wedelt mit einer Hand unbekümmert in der Luft herum. Am Ringfinger ihrer linken Hand glänzt ein großer Diamant im Sonnenschein. Neben ihrer übrigen Ausstattung, die sich aus Ohrringen, einer klobigen Türkiskette, einem dazu passenden Ring und haufenweise Armreifen zusammensetzt, wirkt das Accessoire irgendwie fehl am Platz.
    Sie schaut an meinem Vater vorbei. »Oh, sieh mal, Marshall. Die Wilsons sind zu Hause.«
    Richie und seine Eltern steigen vor ihrem Haus aus dem Wagen. Als Mr. und Mrs. Wilson meinen Dad und Nicole sehen, tauschen sie einen Blick.
    »Hey, Richie!«, rufe ich winkend.
    Er winkt zurück. Wenn er lächelt, bekommt er Grübchen. Vorn auf seinem T-Shirt ist ein Batman-Motiv. Hier gibt es auch nicht den geringsten Hinweis auf den unwilligen Kriminellen, zu dem er in einigen Jahren werden wird. Hier, im Alter von zehn Jahren, ist er ganz Locken und Niedlichkeit und unschuldige Energie. Damals vergötterte ich ihn. Wie hätte ich etwas anderes tun können? Schon als Kinder liebten wir einander, ob uns das nun bewusst war oder nicht.
    »Richard, geh ins Haus. Sofort.«
    »Aber, Mom …«
    Mrs. Wilson lächelt mit zusammengebissenen Zähnen und sagt: » Sofort , Richard.«
    Er schenkt mir ein enttäuschtes Achselzucken, und ich schaue zu, wie er aufs Haus zuschlurft und mir über die Schulter einen Blick zuwirft. Er deutet auf seine Mutter und zieht mit dem Finger einen Kreis um sein Ohr, wie um zu sagen: verrückt .
    Ich strahle ihn an. Dann jedoch schaue ich zu, wie Nicole mit Mr. und Mrs. Wilson dasteht und sich mit ihnen unterhält, während sie mit gezwungenem Lächeln nicken. Damals

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