Manche Maedchen muessen sterben
war ich noch zu jung, um zu begreifen, was los ist, doch als ich jetzt von neuem Zeugin der Szene werde, verstehe ich, woher der Wind weht. Sie mögen sie nicht. Nicht im Geringsten.
»Nach dem Tod meiner Mutter«, erkläre ich Alex, während sich die Erinnerung auflöst, »fingen Nicole und mein Dad sofort an, miteinander auszugehen. Da waren Nicole und ihr erster Ehemann gerade frisch getrennt.« Ich weiß nicht, warum ich ihm das erzähle. Eigentlich will ich überhaupt nicht darüber reden, und wie ich bereits vorher schon mehrfach gesagt habe, habe ich den Gerüchten niemals Glauben geschenkt. Doch plötzlich ist da der Hauch eines Zweifels, irgendwo tief in meinem Verstand. Es ist bloß ein Hauch. Aber das genügt.
»Ihr erster Ehemann?«, fragt er. »Meinst du Josies Dad?«
»Ja«, sage ich nickend. »Aber schau dir Josie an, Alex. Sie sieht meinem Vater schon ein bisschen ähnlich, findest du nicht?« Ich versuche, mich daran zu erinnern, dass Josie auch eine gewisse Ähnlichkeit mit ihrem richtigen Dad hat – sie hatten beide dieselbe Haar- und Augenfarbe –, aber trotzdem. Da ist dieser nagende Zweifel. Die Leute reden schon so lange darüber. Ist es möglich, dass am Ende doch etwas Wahres daran ist?
Josie ist hinreichend schlank und recht zierlich, doch ihre Figur weist eine gewisse Tendenz zum Dickwerden auf. So was wie eine Taille hat sie nicht. Sie besitzt eine Fleischigkeit, an der keine proteinreiche Diät und kein Aerobic-Marathon jemals etwas ändern werden. Ihr Körperbau passt zur väterlichen Seite meiner Familie wie ein fehlender Zweig zu einem Baum.
Mein Dad und Nicole waren auf der Highschool miteinander liiert. Sie trennten sich und gingen nach dem Abschluss ihre eigenen Wege, doch am Ende ließen sich beide mit ihren jeweiligen Ehepartnern in Noank nieder. Dies ist eine Kleinstadt; sie waren Freunde. Meine Mutter war schon lange Zeit krank, bevor sie mit mir schwanger wurde. Wer weiß schon, wie die Ehe meiner Eltern war?
»Die Leute denken, dass mein Dad und Nicole eine Affäre miteinander hatten, und dabei ist Josie herausgekommen«, erzähle ich Alex. »Bevor meine Mom starb. Bevor Nicole geschieden wurde.«
»Oh-oh. Und was denkst du darüber?«, fragt Alex.
Während Richie von seiner Mom abgelenkt ist, schaut Josie auf ihr Telefon und simst eifrig; ein kleines Lächeln spielt dabei um ihre hübschen roten Lippen.
»Ich weiß nicht recht. Bis vor ein paar Minuten hätte ich noch gesagt, dass es absolut unmöglich ist, dass sie jemals eine Affäre hatten. Aber …« Meine Stimme gerät für einen Moment ins Schwanken. »… nach dem Tod meiner Mom haben sie so schnell geheiratet. Sie sind ja kaum miteinander ausgegangen . Ich kann mir nicht vorstellen, dass mein Dad meine Mutter betrogen hätte, Alex. Ich hätte nie gedacht, dass so etwas möglich ist, nicht für eine Sekunde. Es ist nur so, dass …«
»Was?«, forscht Alex. »Es ist nur so, dass was ?«
»Sie sieht meinem Dad tatsächlich ausgesprochen ähnlich. Irgendwie habe ich das bislang noch nie so recht bemerkt.«
Alex mustert Josie eingehend. »Vielleicht wolltest du es bloß nicht bemerken.«
Richie folgt seiner Mom ins Haus, um Josie allein draußen stehen zu lassen, und ich folge Richie; ich spaziere mühelos durch die Vordertür, nachdem er sie direkt vor meiner Nase geschlossen hat.
Im Haus herrscht ein trügerisches Gefühl von Wärme. Wo immer man hinsieht, stößt man auf Kunst: An den Wänden hängen Gemälde (bei den Wilsons gibt es keine Kunstdrucke – es sind alles Originalpastelle, geschützt von Glas in Museumsqualität, eine Sammlung, mit der sich Richies Collegeschulgeld vermutlich dreimal bezahlen ließe); Skulpturen auf dem Boden und auf den Bücherregalen; Buntglasfenster; handgewebte Teppiche; Pflanzen in jeder Ecke der scheinbar zufälligen, liebenswerten Unordnung in einem Haus, das wie ein richtiges Zuhause wirkt.
Doch ich weiß, dass es das nicht ist. All das hier ist bloß eine Anhäufung von Materiellem. Die Gemälde sollen zwar geschätzt und bewundert, aber nicht notwendigerweise eingehend betrachtet werden. Als ich mir einmal eins davon anschaute, wies Richies Dad mich allen Ernstes an, darauf zu achten, nicht zu dicht am Glas zu atmen . Die Bücher dienen allein der Zurschaustellung, vor Jahren en gros auf einer Antiquitätenauktion erstanden. Die Teppiche wurden gesammelt aus Marokko importiert. Sie haben ein Dienstmädchen, das all die Pflanzen gießt.
Und es gibt nie
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