Manche Maedchen raechen sich
stumm.
Über Lexi hängt das Bild einer Heiligen. Das muss Christina, die Wunderbare, sein, die Schutzpatronin des Krankenhauses. Man nennt sie „die Wunderbare“, weil die verstorbene Christina während ihrer Bestattung wieder zum Leben erwacht und zum Dach der Kirche emporgestiegen sein soll. Ihre Hände sind mit einem Seil gefesselt, aber sie sieht aus, als würde sie beten. Ich schaue auf meine Hände. Ich trage immer noch Handschellen. In mir ist etwas zerbrochen und ich schäme mich.
„Es ist meine Schuld, Lexi.“ Ich streiche ihr eine Haarsträhne aus der Stirn.
Ich frage mich, wo sie jetzt ist. Und ob es ihr dort gut geht. Vielleicht träumt sie gerade, es wäre Samstag und sie stünde in dem neuen Bastelladen, auf der Suche nach passenden Perlen für ihr rosafarbenes Ballkleid. Vielleicht schwebt sie gerade unter der Zimmerdecke. Sieht auf ihren leblosen Körper hinab und fragt sich, ob sie gehen soll. Ich hoffe, sie kann mich sehen und weiß, dass ich sie bitte zu bleiben.
„Darf Marianne jetzt reinkommen?“, fragte ich Lexi.
Sie kauerte immer noch in der Ecke in Jane Muttons Zimmer. Es war schon fast Morgen. Ich hatte neben ihr geschlafen oder versucht zu schlafen. Marianne war unterdessen im Flur auf und ab getigert, bis Jane kam und sagte, sie solle damit aufhören. Jane Mutton hatte Angst, der teure Teppich könnte Schaden nehmen. Als ich irgendwann aus dem Zimmer kam, hatte Marianne so lange auf mich eingeredet, bis ich ihr erzählte, was mit Lexi geschehen war.
Lexi nickte.
„Okay“, sagte sie.
Die Wut und die Demütigung darüber, so lange ausgeschlossen gewesen zu sein, standen Marianne förmlich ins Gesicht geschrieben. Der verschmierte Lippenstift und die verlaufene Wimperntusche taten ihr Übriges. Sie würdigte mich keines Blickes, ging mit gesenktem Kopf an mir vorbei und kniete sich neben Lexi.
„Wir werden alles tun, um dir zu helfen, hast du gehört?“, sagte Marianne langsam und deutlich, als hätte der „Zwischenfall“ auch Lexis Gehirn beschädigt.
Lexi schüttelte den Kopf.
„Was soll denn jetzt noch helfen?“, antwortete sie. „Es ist doch schon passiert.“
„Dafür kriegt Aardant den Arsch versohlt und das ist nur der Anfang. Ich werde nicht zulassen, dass dieses miese Schwein ungeschoren davonkommt.“
„Und wie genau willst du das anstellen?“, fragte Lexi. Sie kaute auf ihrem Daumennagel herum. Ein Stückchen Nagellack blätterte ab.
Auf diese Frage war Marianne nicht vorbereitet. Und das machte alles nur noch schlimmer. In diesem Moment hätte ich meine ganze Wut am liebsten an ihr ausgelasse n – weil es am einfachsten gewesen wäre.
Lexi sah zu, wie Marianne durch ihre eigenen Worte ins Schlingern geriet. Und sie rechnete ganz offensichtlich nicht damit, dass Marianne noch die Kurve kriegen würde.
„Wir gehen zur Polizei“, stieß Marianne plötzlich hervor.
„Nein“, sagte Lexi. „Ich will nach Hause.“
Marianne schaute auf und unsere Blicke trafen sich. Das war das erste Mal, dass Lexi den Wunsch äußerte, ihre Ecke zu verlassen.
„Komm, wir helfen dir hoch“, sagte ich zu ihr.
„Nicht nötig“, antwortete sie. „Ich bin kein Pflegefall, Eliza.“
Marianne und ich traten beiseite. Lexi hievte sich mühsam hoch. Sie wirkte so zerbrechlich wie ein frisch geschlüpftes Küken.
„Bringt mich heim“, sagte sie.
„Willst du noch ins Bad und dich ein bisschen frisch machen?“, fragte Marianne. „Haare kämmen, Gesicht waschen oder so?“
„Nein, ich will mich nicht frisch machen . Ich will nach Hause“, erwiderte Lexi gereizt.
Marianne wirkte irritiert. Sie nahm mich beiseite.
„Wir müssen sie ins Krankenhaus bringen“, zischte sie mir ins Ohr. „Damit si e … diese Tests und Abstriche und den ganzen Kram machen können. Als Beweis. Das machen die im Fernsehen auch immer s o …“
Ich schaute über die Schulter zu Lexi. Wie verloren sie dastand, in ihrem Hemdchen mit Spaghettiträgern und ihren Jeans, die Arme um den Körper geschlungen. Und Marianne redete hier von irgendwelchen Tests und Abstrichen. Außerdem hatten wir es bisher ja noch nicht mal geschafft, Lexi auch nur einen Zentimeter von der Stelle zu bewegen. Wie sollten wir sie denn dann jetzt in ein Krankenhaus kriegen?
Ich versuchte mir vorzustellen, wie Lexi auf einem dieser sterilen Untersuchungstische lag, während irgendwelche gesichtslosen Ärzte hinter Atemschutzmasken an ihr herumpikten. Lexi sah so winzig aus, so schwach, und ich wusste, dass
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