Manhattan Blues
beharrte sie.
»Genau das tue ich«, entgegnete er und betonte das tue fast
unmerklich, obwohl sie es nicht bemerkte.
»Mach mal Pause«, sagte sie und hielt ihm wieder die
Marihuana-Zigarette hin. »Mach mit bei der Party.«
»Sie brennt nicht«, sagte er.
»Dann zünde sie an.«
Er hatte sein Feuerzeug in der Manteltasche gelassen, und so nahm er
sich ein Streichholzbriefchen aus einer Schüssel auf dem Beistelltisch.
Walter riß ein Streichholz an und hielt es an die Zigarette. Sie sog daran,
bis die Spitze glühte, und reichte sie ihm dann.
Er inhalierte tief und gab sie ihr zurück.
»Glücklich jetzt?« fragte er. »Frohe Weihnachten? Ich liebe dich
wieder, Walter?«
»Ich liebe dich sehr.«
Sie reichte ihm wieder das Stäbchen.
»Warum bedeutet dir das überhaupt etwas?« fragte er und inhalierte den
Rauch.
»Weil du dich dahinter versteckst, daß du alles richtig machst«,
entgegnete sie. »Du versteckst dich hinter deiner Selbstbeherrschung.«
»Ich habe gar nicht gewußt, daß Selbstbeherrschung so schlecht ist,
Anne«, sagte er. Ein feines Lächeln verriet den Doppelsinn. Er versteckte sich
hinter dem Scherz. Sie sah jedoch ernst aus.
»Bitte sei nicht so ein Heiliger, Walter«, sagte sie. »Dann bekomme
ich Angst, daß ich nicht mit dir mithalten kann.«
Der heilige Judas, überlegte er, als er an Joe Keneally und Marta
Marlund dachte, die jetzt im Bett lagen. Und an Michael Howard und H. Benson.
An Madeleine Keneally und Sean McGuire. Und an Anne. Und an sich selbst.
Er setzte sich neben sie auf den Fußboden, hielt sie an den Schultern,
sah ihr ins Gesicht und sagte: »Je t'aime.«
»Je t'aime aussi. Aber ich
fürchte, ich lasse dich im Stich.«
»Das könntest du gar nicht.«
»Du kennst mich nicht, ich...«
Er legte ihr die Finger an die Lippen und schüttelte den Kopf. »Es ist
Weihnachten«, sagte er, »und bald haben wir Neujahr. Die Zeit für einen
Neubeginn und einen frischen Anfang.«
»Glaubst du wirklich?«
»Ich weiß nie so recht, was ich glaube«, sagte er, »nur, was ich
hoffe.«
Für dich und mich, für Gott und die Vergebung der Sünden.
Als sie ins Bett gingen, führte sie ihn ohne viel Federlesens und nach
wenig Vorspiel schnell in sich hinein. Als sie ihn küßte, war es feucht und
tief, und sie atmete seinen Atem ein, als versuchte sie, Leben zu saugen...
nicht gerade aus ihm, das niemals... aber von ihm. Und
als sie kam, blickte sie mit ihren grauen Augen starr in seine, als versuchte
sie, eine Antwort auf eine unausgesprochene Frage zu finden.
Er lag hinterher noch lange wach, dachte an sie, an Weihnachten und
das neue Jahr. Er strich ihr behutsam über den Flaum auf ihrem Unterarm und
betrachtete sie im Schlaf.
Für dich und mich, für Gott und die Vergebung der Sünden.
Blue Monk
Donnerstag, 25. Dezember 1958
Nach einem kurzen schlechten Schlaf wachte Walter früh am
Weihnachtsmorgen auf. Er stand auf, zog sich einen Morgenmantel an und holte
sich das Pamphlet von der Treppe, das während des Streiks als die Times figurierte.
Er rauchte seine erste herrliche Zigarette des Tages, als er sich einen Topf
Kaffee machte und die Nachrichten überflog.
Ich scheine der Welt überdrüssig zu werden, dachte er, als er die
Schlagzeilen überflog, weil ich der Welt überdrüssig bin. Gromyko drohte, die
sogenannte freie Welt wegen Berlin zu zerschmettern, und das Pentagon prahlte,
wir hätten die Atlas-Interkontinentalrakete in einem Jahr »einsatzbereit«. Ike
behauptete, es gebe Beweise dafür, daß es keine Raketenlücke gebe, während
Keneally behauptete, es gebe sehr wohl Beweise dafür. Dabei fiel Walter ein
weiteres Bonmot Mort Sahls ein -»Wir sollten den Russen unsere gesamten wissenschaftlichen
Geheimnisse geben, dann wären sie zwei Jahre
zurück.« Eine positivere Nachricht lautete, man habe »unter der strahlenden
Dezembersonne« in Jerusalem die Barrikaden beseitigt, nämlich zu Ehren des
heiligen Tages. Walter fiel angenehm auf, daß israelische Polizisten und
jordanische Soldaten »sich im Niemandsland wie selbstverständlich miteinander
unterhielten«, doch es verwirrte ihn, daß das einzige, was Juden und Moslems
erlaubte, »sich miteinander zu unterhalten«, ein christlicher Feiertag war, der
auf germanische Heiden zurückging.
Nun, ich bin der Welt tatsächlich überdrüssig, und morgen werden die
Barrikaden wieder aufgerichtet werden, dachte Walter.
Und wenn ich schon von aufrichten spreche...
»Guten Morgen«, sagte er zu Anne,
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