Manhattan Blues
als sie in die Küche trottete. »Du
bist schon früh auf.«
»Ist der Weihnachtsmann gekommen?« fragte sie. Ihre Augen waren
verquollene Schlitze, ihr Haar ein wirres, strähniges Knäuel, und ihren
Morgenmantel hätte man mit viel Wohlwollen als »tantenhaft« bezeichnen können.
»Gekommen, aber gleich wieder weg«, erwiderte Walter. »Aber er hat
wenigstens Kaffee gemacht.«
»So ein lieber Kerl«, murmelte sie. »Ich habe immer gewußt, daß es
einen Grund dafür gibt, daß ich diesen netten dicken alten Mann liebe.«
»Warum bist du bloß so früh aufgestanden?«
»Ich muß aufs Land fahren«, murmelte sie. »Meine Eltern besuchen.«
»Bist du sicher wegen Greenwich?«
»Absolut.«
Walter goß ihr eine Tasse Kaffee ein und gab reichlich Sahne und
Zucker dazu, bis das ganze wie cafe au lait aussah.
Dann fand er ein Baguette im Küchenschrank, schnitt es der Länge nach auf, dann
quer, bestrich es mit Butter und reichte ihr eine Hälfte. Sie setzte sich an
den Küchentresen, tauchte das Brot in den Kaffee und schien dann ein wenig zu
sich zu kommen.
»Frohe Weihnachten, Darling«, sagte sie. »Frohe
Weihnachten.“
»Wollen wir die Geschenke auspacken?“
»Gute Idee.«
Sie setzten sich im Wohnzimmer auf den Fußboden und betrachteten die
Geschenke, die sie vor ein paar Tagen unter den kleinen Baum gelegt hatten. Sie
hatte seine Pakete in glänzendes rotes Papier mit großen, von Hand gebundenen
Schleifen gewickelt. Er hatte sich die Pakete von Verkäuferinnen bei Saks,
Bonwit's, Bergdorfs und Brentano's einwickeln lassen.
»Erst du«, sagte er.
»Wir wechseln uns ab.«
Er schenkte ihr zwei Perlen-Ohrringe, einen langen Seidenschal, ein
Paar Winterhandschuhe, einen braunen Männer-Filzhut, zwei große Broschen, wie
sie gerade Mode waren, Ferlinghettis A Coney Island of The Mind und
Cheevers The Housebreaker of Shady Hill sowie ein
weiteres Jahresabonnement der New Republic. Ihre
Geschenke für ihn waren eine Sportjacke aus Tweed, ein Geldclip, ein Pullover,
ein Abonnement für Sports Illustrated sowie
Plattenalben: Mahlers Erste Symphonie, Coltrane and
Monk, The Modern Jazz Quartet und Ahmad Jamals At the
Pershing, von dem sie sagte, es sei die Jazzplatte des Jahres.
Dann noch etwas: ein Tonband.
»Was ist das?« fragte er.
»Ein paar Mitschnitte aus dem Studio«, sagte sie verschmitzt. »Ich
wollte, daß du ein Band hast, da einige von ihnen nicht kommerziell genug sind,
um sie im Album dabei zu haben. Ich hoffe, es gefällt dir.«
»Ich bin entzückt.«
Sie betrachtete die Geschenke, die sich auf dem Fußboden stapelten.
»Für ein paar Bohemiens«, sagte sie, »sind wir mit Sicherheit sehr
konventionell.“
» Dm bist eine
Bohemienne.«
»Und du der leitende Angestellte«, gab sie zurück. »Tut mir leid, daß
wir uns gestern abend gestritten haben.“
»Mir auch.«
Sie sagte: »Ich glaube, es liegt daran, daß wir wieder in Amerika
sind. Der Druck, sich anzupassen, verschärft unsere Gegensätze.«
»Sind wir in Amerika?« fragte Walter. »Ich dachte, wir wären in New
York.“
»Und New York ist nicht Amerika?« fragte sie. »Es ist eine magische
Insel in einem Meer des Konformismus.«
»Tatsächlich?«
»Es kann jedenfalls sein.«
»Ich weiß nicht.«
Er beugte sich vor und löste die Schlaufe ihres Morgenmantels. Dieser
ging auf, und er griff nach ihrer Körpermitte, und schob ihre Beine so weit
auseinander, daß er sie dort berühren konnte.
»Es kann es sein«, wiederholte er.
Er schob sie behutsam hinunter, und das Geräusch von zerknülltem
Einwickelpapier unter ihr hörte sich an wie das Knistern eines Feuers, als sie
sich liebten.
»Du siehst müde aus, Walter«, sagte seine Mutter, als sie ihm einen
Teller mit Truthahnfleisch reichte. »Bekommst du immer genug Schlaf?«
Mütter, dachte Walter, sind die einzige Konstante in einer sonst
unberechenbaren Welt. Und um die Wahrheit zu sagen, Mutter, bin ich bei Anne
aufgewacht, habe sie auf die Wange geküßt, mir meinen zerknüllten Abendanzug
angezogen, einen jüdischen Taxifahrer gefunden, um dann nach Hause zu fahren,
wo ich geduscht und mich rasiert habe. Dann habe ich mir einen anständigen
Weihnachtsanzug ausgesucht, den MG aus der Garage geholt und sämtliche
Geschwindigkeitsbegrenzungen von zwei Staaten mißachtet, um rechtzeitig zum
Sherry vor dem Dinner hier zu sein.
Er sagte jedoch: »Ja, Mutter. Wieso, sehe ich müde aus?«
Seine Schwester Elizabeth verdrehte die Augen.
»Und wie geht es Anne?«
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