Manhattan Blues
fragte Barbara Withers. »Triffst du dich noch
mit ihr?«
Das mütterliche Radar. Feinfühlig, genau, tödlich.
»Gerade erst letzte Nacht, um genau zu sein«, erwiderte Walter.
Sein Schwager Roger, selbst nach den Maßstäben eines Schwagers ein
Kretin, grinste sogar in seinen Kartoffelbrei. Die Eifersucht des Mannes in
Fesseln, dachte Walter. Wenn meine Schwester mit der Peitsche knallt, bekommt
er es immer ab.
»Zu schade, daß du sie nicht mitgebracht hast«, sagte Elizabeth.
»Sie verbringt den Tag mit ihrer Familie«, erwiderte Walter. Du wirst
dir deine Unterhaltung also woanders suchen müssen.
»Und wo leben sie?« fragte seine Mutter. »Irgendwo weiter auf dem
Land.«
»Nun, wir würden sie gern mal bei uns begrüßen«, sagte Mrs. Withers
mit gnädiger Unaufrichtigkeit. Mrs. Withers hatte nichts gegen Anne, ganz und
gar nicht, doch sie brachte es einfach nicht über sich, ihren Sohn mit einer
Nachtclubsängerin in Verbindung zu bringen. Obwohl er Privatdetektiv geworden
war. Barbara Withers hatte die Rolle einer Ehefrau aus gutem Haus mit Anstand
erfüllt. In diese Verantwortung war die Verpflichtung eingeschlossen, mit
Anstand zu altem. Seit dem Tod ihres Mannes vor fünf
Jahren und der zusätzlichen Bürde, die Familie zusammenzuhalten, hatte sie
etwas von George Withers' gravitas angenommen,
allerdings ohne sein aufbrausendes Temperament. An diesem Weihnachtsmorgen war
ihr schneeweißes Haar perfekt frisiert, ihr graues Kleid saß anmutig, und die
Perlenkette, die sie, wie nicht anders zu erwarten, trug, war deshalb nicht
weniger elegant.
Barbara Withers hatte mit ihrem Mann den Glauben geteilt, daß
Menschen das Recht haben, von anderen Menschen bestimmte Dinge zu erwarten,
denn sonst sei ein Zusammenleben unmöglich, »dann könnten wir genausogut
wieder auf die Bäume klettern und uns gegenseitig mit Früchten bewerfen«.
Sie wußte, was von einer guten Hausfrau in Connecticut erwartet wurde,
und noch mehr von einer Witwe.
in »Eine Ehefrau«, hatte sie ihrer
Familie einmal gesagt, »darf vielleicht mal bei der Weihnachtsfeier des Country
Club flirten. Eine Witwe darf es nicht — es könnte ernst genommen werden.«
Barbara Withers wußte also, daß eine Mutter ihrem
dreiunddreißigjährigen Sohn zwar zu verstehen geben darf, daß er sich mit den
falschen Frauen abgibt, doch sie darf es nie offen sagen oder ihn auch nur
bitten, so etwas zu beenden. Diese Art direkte Einmischung mag vielleicht
südlich der Mason-Dixon-Linie üblich sein, aber ganz gewiß nicht in einem
Villenvorort von Greenwich. Außerdem hatte sie es vermieden, ihrem Sohn allzu
viele Fragen zu stellen, seit George sie eines Tages beiseite genommen und ihr
erzählt hatte, ihr Sohn sei in die Dienste der Regierung getreten, doch es sei
am besten, Freunden einfach zu sagen, der junge Walter arbeite jetzt »in der
Wirtschaft«.
»Wie geht's im Privatschnüfflergeschäft?« fragte Roger, wieder mit
einem schiefen Grinsen. Roger war an der High School der Stadt
stellvertretender Schulleiter. Im Verein mit Elizabeths geerbtem Vermögen
erlaubte ihm das ein angenehmes Leben. Er machte sich nie die Mühe, sein
selbstgefälliges Amüsement über Walters Dasein als »Privatschnüffler« zu
verbergen.
Dieser fühlte sich manchmal versucht, Roger darüber aufzuklären, daß
seine Hauptbeschäftigung im Leben darin bestand, für Elizabeths
Hauptbeschäftigung im Leben das Sperma zu liefern, für das Herausputzen ihrer
drei Kinder, die herumliefen, als wären sie Schaufensterpuppen. Die Kinder,
Roger jr., Eleanor und Margaret, hatten begriffen, was von ihnen erwartet
wurde, und benahmen sich fast wie Kunststoff-Kinder, obwohl sie amüsant und
sogar bezaubernd sein konnten, wenn ihre Eltern ihnen erlaubten, Kinder zu
sein.
»Wie die Bezeichnung schon andeutet, ist es eine Privatangelegenheit«,
antwortete Barbara an Walters Stelle. »Würdest du mir bitte die Kartoffeln
herüberreichen, Roger?«
Was Neu-England-Jargon war für: Wir sprechen nicht über das, womit
Walter seinen Lebensunterhalt verdient. Damals nicht, heute nicht, niemals. Das
macht die Konversation bei Tisch vielleicht ein bißchen mühsamer, aber wer den
Vermögens-Fonds der Familie genießen will, muß diese Kröte schlucken.
Wir verstehen uns darauf, Geheimnisse zu wahren, dachte Walter über
seine Familie. Das können wir gut. Wir haben nicht nur die Wertschätzung der
Neu-Engländer für ein ungestörtes Privatleben, sondern auch die Erfahrung
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