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Manhattan Karma: Ein Leonid-McGill-Roman

Manhattan Karma: Ein Leonid-McGill-Roman

Titel: Manhattan Karma: Ein Leonid-McGill-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Mosley
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Zutritt zu seinem dunklen, staubigen Reich.
    Ich durchquerte drei vollgestellte Räume, ehe ich in Tinys Büro kam, das ehemalige Schlafzimmer der Souterrainwohnung. An einer Wand standen riesige hellgraue Computer, die summten und garantiert eine Menge Wärme verströmten, aber Tiny hatte die Klimaanlage so eingestellt, dass selbst Pinguine gefroren hätten.
    Der fette junge Mann mit der karamellfarbenen Haut thronte auf einem Drehstuhl vor zahllosen Tastaturen in einem Cockpit, das in einen runden Resopaltisch von knapp vier Metern Durchmesser gesägt worden war. Ertrug eine Latzhose, aber kein Hemd und eine Brille mit einem blauen und einem grünen irisierenden Glas. An der Decke waren zwölf Monitore so aufgehängt, dass er sie mit einer Wendung des Kopfes oder schlimmstenfalls einer Drehung auf seinem Stuhl im Blick hatte. Hinter ihm befand sich ein riesiger Bildschirm, unterteilt in Kästchen unterschiedlicher Größe, die wechselnde Fernsehbilder zeigten – Zahlen, ausländische Buchstabenfolgen oder manchmal auch nur eine sich stetig wandelnde, gestaltlose Form.
    »Hey, Tiny«, sagte ich.
    Ich setzte mich nicht, weil es in Tinys Labor keinen zweiten Stuhl gab. Er hatte mir einmal erzählt, dass ihn überhaupt nur vier Menschen besuchten. Ich wusste nicht, wer die anderen drei waren, aber ich würde wetten, einer von ihnen war sein Vater.
    Simon Bateman hatte mich selbst mit seinem Super-Nerd-Sohn bekannt gemacht. Ich hatte Bateman senior einmal aus einer üblen Klemme geholfen, und er entlohnte mich, indem er Bug überredete, hin und wieder für mich zu arbeiten.
    »Wie hat das Handy funktioniert?«, fragte der gut dreißigjährige Einsiedler mit einer hohen Stimme, die immer noch höher zu streben schien.
    »Gut. Gut. Kann sein, dass ich demnächst noch ein paar brauche.«
    »Das blaue und das pinke neben der Eingangstür«, sagte er.
    Bug schlief in der Wohnung über seinem Büro, die ihm auch gehörte. Die Leute, mit denen er zusammenarbeitete, gaben ihre Lieferungen und holten auch ihreAnweisungen in einem versiegelten Vorzimmer ab, das er dort eingerichtet hatte. Auf diese Weise musste er wochenlang keinen Menschen sehen.
    »Ich wollte mit dir reden«, sagte ich.
    »Worüber?«
    Ich erzählte ihm von den E-Mails, die Twill verschickt und erhalten hatte.
    »Ich mache mir Sorgen um meinen Sohn«, sagte ich.
    »Vielleicht hat er einen guten Grund«, sagte Tiny und nahm die Brille ab, der er seinen Spitznamen Bug, Käfer, verdankte.
    Er hatte kleine Augen und pummelige Arme und Beine. Er war der technisch versierteste und körperlich ungesundeste Mensch, den ich kannte.
    Tiny bezeichnete sich als Techno-Anarchist. Er glaubte, dass die Menschheit sich langsam in, wie er es nannte, monadische Partikel auflösen würde: autarke Individuen, die nur von der Technik und ihrer Beziehung zu ihr abhängig waren.
    »Ich lass meinen Sohn nicht da draußen rumlaufen und Menschen umbringen, Tiny. Auf keinen Fall.«
    »Twill ist ein cleverer Junge«, sagte der Selfmade-Computer-Spezialist. »Vielleicht kommt er ungeschoren davon.«
    »Ich muss alles über die Person wissen, mit der er kommuniziert«, unterband ich jede weitere Diskussion.
    Tiny zog die Schultern hoch und fügte sich nickend meiner Forderung. Bei all seinen monadischen Ambitionen hing er immer noch am Tropf seines Vaters, und Simon stand tief in meiner Schuld.
    Von Tinys Büro ging ich zu einer kleinen Bar am East Hudson, die Naked Ear hieß. Dort habe ich immer mit Gertrud getrunken, bevor sie ermordet wurde. Damals war es eine urige Kneipe, die nach zehn Uhr abends Dichterlesungen veranstaltete, aber heute bestand die Kundschaft aus Börsenmaklern, die in einer Woche mehr verdienten als ich in drei Monaten.
    Wenn ich früh genug kam, erwischte ich vielleicht einen Tisch in der Ecke, abseits des Gedränges der flirtenden Kinder. Dort würde ich mir einen Cognac bestellen und mit einer Erinnerung anstoßen.
    Ich trank, bis das Aufstehen zur ernsthaften Herausforderung wurde, doch ich schaffte es noch, auf die Straße zu stolpern und ein Taxi heranzuwinken.
    An diesem Abend hatte ich daran gedacht, Katrina anzurufen, sodass sie schon im Bett war, als ich nach Hause kam. Im Flur ließ ich meine Jacke fallen, im Wohnzimmer streifte ich die Schuhe ab. Auf dem Weg ins Schlafzimmer schaute ich bei Twill herein. Das tat ich nicht, weil er mein Lieblingssohn war (auch wenn das stimmte), sondern weil Twill nachts, wenn wir anderen schliefen, häufig unterwegs war.

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