Manhattan Karma: Ein Leonid-McGill-Roman
alles von meiner Suche nach vier jungen Männern und den drei Toten. Mit Aura zu reden war, als würde man eine Vene öffnen.
Das Erste, was man in meiner Branche lernt, ist, nie eine Information preiszugeben, wenn man nicht unbedingt muss. Katrina wusste nichts von meinem Job. Aber Aura stand für eine vollkommen neue Richtung in meinem Leben. In der Zeit, die ich mit ihr verbrachte, war ich geradezu selbstquälerisch ehrlich. Ich log nie außer über meinen wiederkehrenden Traum. Manchmal, wenn etwas einfach zu geheim war, um es mit jemandem zu teilen, sagte ich: »Darüber kann ich nicht reden, Baby. Also bitte frag nicht.«
»Was ist mit dem Traum?«, fragte sie, nachdem ich ihr von Norman Fells Leiche erzählt hatte.
Hinter der Frage steckte eine doppelte Absicht. Zum einen signalisierte sie mir, dass sie meine Geschichte glaubte und auf meiner Seite stand. Zweitens wollte sie mich, da ich sie offenbar tiefer in mein Leben hineingelassen hatte, besser verstehen lernen.
»Ich bin in einem Gebäude«, sagte ich, erleichtert, den Albtraum endlich in Worte zu fassen. »Es brennt und brennt, und ich renne von Zimmer zu Zimmer. Ichbin vielleicht der letzte Überlebende, aber das spielt keine Rolle, weil ich bald ebenfalls tot sein werde ...« Ich erzählte ihr von dem Fenster und dem tiefen Fall. »Als ob mein Leben ein einziger langer Sturz von einem hohen Berg wäre. Während ich falle, bin ich sicher, dass ich sterben werde. Eine Rettung ist völlig unmöglich. Es gibt kein Polster, keine unvorhergesehene Wendung.«
Aura nahm meine Hand in ihre Hände und drückte sie fest.
»Ich liebe dich, Leonid McGill.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Du verstehst nicht, was Liebe ist?«
»Vielleicht ja, vielleicht auch nicht. Was ich nicht verstehe, ist, wie du dir das alles anhören und noch irgendwas für mich empfinden kannst. Ich habe dich wegen einer anderen Frau verlassen. Ich bin für den Tod von mindestens zwei Menschen verantwortlich. Und du weißt, dass ich in den vergangenen Jahren noch viel Schlimmeres getan habe.«
Auras Lächeln kam von einem anderen Ort als dem, an dem ich zu ihr sprach. Nickend bestätigte sie irgendetwas, aber nichts, was ich gesagt hatte, und wartete dann, dass dieses unausgesprochene Wissen sich über uns senkte. Schließlich nahm sie meine Hand, beugte sich vor und küsste mich zart auf den Mund
»Du bist ein Mann auf der Straße«, sagte sie.
»Was soll das heißen?«
»Mein Vater hat in seinem Heimatland viele Männer getötet. Aber wenn er sich seinen Taten hätte stellen können, hätte ich ihn trotzdem geliebt. Stattdessen log er und gab anderen die Schuld für seine Verbrechen. Erhat die Straße verlassen, er ist aus der Sonne gegangen. Aber du stehst da, mitten im hellen Tageslicht. Und mehr will ich nicht von meinem Mann.«
Ihrem Mann.
Ich wollte atmen, doch es klappte nicht. Ich versuchte es noch einmal.
»Wie spät ist es?«, fragte ich.
»Zwanzig nach eins.«
»Mittags?«
Aura nickte und lächelte ihr rätselhaftes Lächeln.
»Ich hab seit neun geschlafen?«
Sie nickte.
»Wie lange bist du schon hier?«
»Ich bin hoch gekommen, als der Polizist gegangen war«, sagte sie. »Erst wollte ich nur sichergehen, dass es dir gutgeht. Dann bin ich geblieben, um auf dich aufzupassen, während du dich ausruhst.«
20
Aura küsste mich noch einmal. Es wäre der perfekte Moment gewesen, wieder zusammenzukommen, wenn da nicht die Wahnsinnige gewesen wäre, die aus Leibeskräften kreischend um das Sofa rannte. Diese Wahnsinnige war mein Leben.
Aura stand auf und zog mich an den Händen auf die Füße.
»Ich bin in meinem Büro, falls du mich brauchst«, sagte sie.
Aura weggehen zu sehen war nie leicht. Aber zum Grübeln hatte ich keine Zeit.
Für einen Analphabeten hatte Norman Fell seine Bücher recht ordentlich geführt. Die meisten Posten waren Ausgaben, die er unter einigen wenigen Rubriken wie »Betripskosten« und »Bürobedaf« verbucht hatte. Hin und wieder nahm er auch Geld ein. Jemand, der als TR verzeichnet war, hatte ihm vierhundert Dollar bezahlt. Weitere zweihundert waren einem gewissen Jo M zugeschrieben. Die Honorare waren durchweg kümmerlich, mit Ausnahme von Einnahmen, die alle unter denselben Initialen verzeichnet waren.
Norman hatte vier Zahlungen von fünfundzwanzigtausend Dollar erhalten, die letzte am Tag oder Vortag seines Todes. Die Initialen neben den Einträgen lauteten schlicht VM – bis auf das erste Mal, bei dem neben dem VM in
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