Manhattan Karma: Ein Leonid-McGill-Roman
ich immer der Kleine gewesen, ab zwölf vaterlos und arm – nicht aus weltanschaulicher Überzeugung, sondern in Wirklichkeit. Meine Mutter starb, als ich gerade vierzehn gewordenwar. Sie gab einfach auf. Ich habe ihr nie einen Vorwurf daraus gemacht. Ich war allein auf der Welt und machte im Ring des Lebens nur selten einen Schritt zurück. Ich war das, was Gordo einen Puncher nannte. Ich marschierte vorwärts, kassierte meine Beulen und teilte genauso gut aus. Ältere Kids, die sich mit mir anlegten, waren gut beraten zu wissen, wie viele ausgeschlagene Zähne sie sich leisten konnten. Und wenn der Schuldirektor oder irgendwelche Pflegeeltern dachten, ich sei auf der Welt, um Befehle entgegenzunehmen, wurden sie eines Besseren belehrt.
Die Menschen, vor denen ich in meinem Leben wirklich Angst hatte, kann ich an einer Hand abzählen. Und ganz oben auf dieser Liste steht Hush.
Soweit ich weiß, bin ich einer von drei Menschen, die seinen richtigen Namen kennen, und ich würde ihn nie laut aussprechen, geschweige denn aufschreiben.
Fast zwei Jahrzehnte lang war er der Mann, zu dem die Profis kamen, wenn sie jemanden umbringen lassen wollten. Er erledigte jeden Auftrag, überall. Wenn es aussehen sollte wie ein Unglück, waren Herzinfarkt und Autounfall im Angebot. Wenn die Leiche verschwinden musste, wurde sie nie gefunden. Er war so gut, dass selbst die Bosse ausländischer Mobs es sich zwei Mal überlegten, bevor sie seinen Codenamen aussprachen – und niemand hat sich je geweigert, ihn zu bezahlen.
Nur wenige hatten ihn als den kennengelernt, der er war. Wenn er als Botenjunge oder Müllmann auftauchte, war er völlig unscheinbar. Er war ein blasser weißer Typ, 1,75 Meter groß mit kurzem braunem Haar, durchaus, jedoch nicht besonders gut gebaut. Das einzig Auffällige an ihm war seine tiefe rumpelnde Stimme.
Einen bewaffneten Mann konnte er mit einem Mundvoll Wasser töten.
Niemand wollte hören, dass Hush hinter ihm her war. Er war die wandelnde Verkörperung von Bauchspeicheldrüsenkrebs.
Wenn die Leute erfuhren, dass er sie verfolgte, gab es vielfältige, aber vorhersehbare Reaktionen. Manche ergriffen die Flucht. Andere schlossen Lebensversicherungen ab und ordneten ihre Verhältnisse. Einige gingen zur Polizei und ersuchten Zeugenschutz, doch am Ende starben sie alle. Das weiß ich, weil ich Hush kenne.
Bei aller Vielfalt der an den Tag gelegten Reaktionen war die von Carter Brown aus East New York einzigartig. Als Carter erfuhr, dass sein Uptown-Rivale hundert Riesen für Hushs Dienste bezahlt hatte, lachte er. Er war der Einzige, der keine Angst vor dem versierten Mörder hatte. Er hatte keine Angst, weil er die Achillesferse des Killers kannte: eine junge schwarze Frau namens Tamara und ein Kleinkind, dessen Vater Hush war.
Mindestens fünfundzwanzig Figuren mussten in Bewegung gesetzt werden, bis Hush mich schließlich erreichte. Wir verabredeten uns um 14.15 Uhr in einem großen Salatrestaurant aus Glas und Chrom in Midtown Manhattan, als der Ansturm zum Mittagessen langsam abebbte, es jedoch immer noch voll genug war. Er saß an einem Zweiertisch am Fenster mit Blick auf die 48 th Street.
Ich wusste, dass er der Killer war, als ich ihm in die Augen blickte.
Er legte mir sein Problem an Ort und Stelle dar, umgeben von Hunderten kauender Büroangestellter undSekretärinnen, die über ihren Boss, ihr Sexleben und ihre Kinder plapperten.
Tamara und der Junge, Thackeray, waren entführt worden, und Brown verlangte die Liquidation seines Rivalen.
Zunächst fiel es mir schwer, mich zu konzentrieren. Schließlich galt Hush in meiner Branche als königlicher Adel.
»Und?«, fragte er, nachdem er mir sein Dilemma erläutert hatte.
»Warum nicht einfach Big Joe umlegen?«, fragte ich und tat so, als wären wir irgendwie ebenbürtig.
»Das würde ich machen, wenn ich glauben würde, dass Brown Wort hält. Aber er weiß, dass ich ihn für das, was er getan hat, umbringen muss. Er muss mich loswerden, und wer würde dann meine Familie schützen?«
»Okay«, sagte ich. »Ich mache es.«
»Wie viel?«
»Geht aufs Haus.«
Der Killer lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.
»Warum?«
»Werbegeschenk«, sagte ich und erhob mich. Selbst beim Sparring gegen Schwergewichtler hatte ich nie auf derart wackligen Beinen gestanden.
Ich brauchte bloß fünf Stunden, um Tamara und Thackerey aufzuspüren und zu befreien. Vor dem Blick eines Weißen konnte Carter sie verstecken, doch für mich war es ein
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